Kapitel 16 – Es werden immer mehr
Nicht nur das Lehrerkollegium hatte diese Idee, sondern auch oppositionelle Politiker. Es hatten sich die Meldungen gehäuft, dass nachdem die Mädchen durch ihre sichere Kleidung und die Leinenpflicht für Sexualstraftäter nicht mehr greifbar waren, verstärkt die Jungs zu Opfern wurden. Es wurden wieder Expertengruppen einberufen, welche zu dem Ergebnis kamen, dass eine Ausweitung des Windelgesetzes dem Einhalt gebieten könnte.
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Kurze Zeit später wurde das Windelgesetz zum dritten Mal im Parlament diskutiert und es kam wieder zu einer Abstimmung. Die Debatte war ähnlich emotional wie bei den beiden letzten Malen und wieder war es vollkommen unklar, wie es ausgehen würde. Aber als die Parlamentspräsidentin das Ergebnis bekannt gab, war es genau das gleiche wie bei der vorherigen Abstimmung. Damit waren alle Kinder und Jugendliche bis zur Volljährigkeit von dem Gesetz betroffen. Der Stichtag wurde auf den 1. Januar 2019 und die Altersgrenze auch auf den 1. August 2001 festgelegt, somit würden nach den Weihnachtsferien nur noch wenige Schüler nicht dem Windelgesetz unterworfen sein.
Der einzige Junge, der sich darüber freute, war Max.
„Endlich bekomme ich für die Schule einen Overall, der zwei Nummern größer ist und eine Latzhose mit einem Schnitt für Jungen!“
Allen anderen Jungen, die wie Valerie eineinhalb Jahre zuvor zum ersten Mal mit dem Tragen von Windeln und gesicherter Kleidung beginnen mussten, war das Entsetzen anzusehen. Valerie, die bei ihrem ersten Spaziergang noch sauer gewesen war, dass die Zeit in Windeln nur für Mädchen verlängert worden war, verspürte überhaupt keine Schadenfreude. Sie wusste, was das für die Betroffenen bedeutete und hätte sich gewünscht, dass das Gesetz für alle abgeschafft würde.
Auch die Mädchen, die auf ein Ende des Windelgesetzes gehofft hatten, wurden bitter enttäuscht, als sie sahen, wie die Toiletten in den Schulen nach und nach zu Wickelräumen umgebaut wurden.
Die restliche Zeit bis zu den Ferien verging sehr schnell und in der Schule war die zunehmende Spannung deutlich spürbar. Auch diesmal dauerte es eine Zeitlang, bis sich die ersten Jungs bei Valerie erkundigten, wie es sich in Windeln und verschlossener Kleidung leben würde.
Am ersten Weihnachtsfeiertag kamen auf Wunsch von Valerie ihre Großeltern wieder zu Besuch. Sie hatte das dringende Bedürfnis, ihnen ihren Freund vorzustellen und er freute sich auch darauf.
Als Valeries Großeltern zur Wohnungstüre hereinkamen, hatte ihre Oma nur Augen für Max und musterte ihn von oben bis unten.
„Du passt zu meiner Enkelin!“ war das Erste, was sie sagte, dann umarmte sie ihn, bevor sie den Rest der Familie begrüßte.
„Valerie hat mir so viel Gutes über dich erzählt und ich bin froh, dich endlich kennenzulernen.“
Nachdem sie sich alle im Wohnzimmer hingesetzt hatten, öffnete ihre Oma ihre Tasche und holte einen Briefumschlag heraus. Valerie hatte sich schon gewundert, bislang war die Bescherung bei der Familie Müller immer am 24. abends gewesen. Aber als klar war, wer zu Besuch kommen würde, hatten ihre Eltern erklärt, dass sie dieses Jahr erst am ersten Weihnachtsfeiertag stattfinden sollte.
„Wir haben uns zusammen mit euren beiden Eltern lange überlegt, was wir euch zu Weihnachten schenken können. Ihr wart die letzten eineinhalb Jahre so eingeschränkt, dass wir uns gedacht haben, wir schenken euch etwas, dass euch eure Freiheit beweist. Ich hoffe, ihr freut euch darüber.“
In dem Briefumschlag war ein Gutschein für eine zweiwöchige Reise auf die Malediven in den nächsten Sommerferien. Valerie und Max machten riesengroße Augen und waren erst sprachlos, dann sprangen sie auf und wollten gar nicht mehr aufhören, alle zu umarmen.
Nach der Bescherung ging die Familie zu dem großen Weihnachtskonzert in die Stadt. Valerie und Max mussten deswegen ihre Laufgeschirre anlegen und wollten von Valeries Großeltern geführt werden. Die hatten aber keine Übung darin, Jugendliche an der Leine zu haben, sodass es des öfteren zu lustigen Szenen kam.
„Es ist unglaublich, dass es für alle scheinbar ganz normal ist, wenn fast schon erwachsenen Menschen Gassi geführt werden!“ stellte Valeries Oma in ihrer direkten Art immer wieder erstaunt fest.
Nach dem festlichen Konzert gingen sie wieder nach Hause zum Abendessen und saßen danach noch lange danach zusammen. Beide erklärten der sehr neugierigen Oma, wie sie sich ihre Zukunft vorstellten.
Am zweiten Weihnachtsfeiertag war Valerie bei Max eingeladen, auch seine Großeltern waren zu Gast und außer dass es wieder sehr viel zu essen gab, wurden auch lange Gespräche über nahezu dieselben Themen wie am Vortag geführt. Die Oma und der Opa von Max schlossen Valerie vom ersten Moment an in ihr Herz und ihr ging es genauso. Der Opa von Max lächelte ihn an, als sie im Laufe des Abends einmal nur zu zweit in der Küche standen.
„Ich habe nie verstanden, warum du dich dem Windelgesetz unterworfen hast, jetzt schon. Dieses Mädchen ist ein Sechser im Lotto, lass diesen Schatz ja nie wieder los!“
Zwei Tage vor Silvester erhielt die Familie wieder ein Schreiben vom Jugendamt.
‚Sehr geehrter Herr Müller, sehr geehrte Frau Müller,
wie sie sicher schon mitbekommen haben, wurde das Windelgesetz abermals geändert. In erster Linie wurde das Gesetz auf Jungen bis 18 Jahre ausgeweitet, allerdings gibt es auch einen Punkt, der Sie und Ihre Tochter Valerie betrifft.
Um der erheblichen Zunahme von Ladendiebstählen durch Kinder und Jugendliche entgegenzuwirken, wurden auch die Ausführungsbestimmungen für das Laufgeschirr ab dem 01.01.2019 angepasst. Alle vom Windelgesetz Betroffenen haben in Läden ab einer Verkaufsfläche von 800 Quadratmetern das Laufgeschirr zu tragen und es besteht Leinenpflicht. An den Eingängen werden die Symbolschilder und Hinweisschilder „Leinenpflicht“ aufgestellt sein, Ladeninhaber mit weniger Verkaufsfläche können sich auf freiwilliger Basis daran beteiligen. Kinder und Jugendliche, die schon durch einen aktenkundigen Ladendiebstahl aufgefallen sind, müssen zusätzlich durch Handmanschetten gesichert werden. Wir weisen darauf hin, dass der Leinenführer für die Handlungen der Kinder und Jugendlichen vollumfänglich verantwortlich ist.
Mit freundlichen Grüßen
Dieter Dachser
Jugendamt‘
Valerie fühlte wieder wie vor den Kopf gestoßen. War das Windelgesetz nicht gerade erst so einigermaßen erträglich gestaltet worden? Es war zwar für sie mittlerweile normal, Windeln zu tragen und auch wenn sie mal eine Zeit lang nass waren, war das für sie nicht mehr so schlimm. Nachdem auch die meisten Mädchen ihrer Altersgruppe die gesicherte Kleidung hatten, die ja auch jetzt etwas besser aussah, war ihr Status nicht mehr das Problem. Für jeden Windelwechsel erst fragen zu müssen, um aufgesperrt zu werden, widerte sie vor allem nach dem großen Geschäft immer noch an. Aber warum musste sie schon wieder für die Fehler anderer Einschränkungen hinnehmen?
„Ich fasse es nicht, immer wenn ich mich gerade an alles gewöhnt habe, dann kommen sie mit dem nächsten Mist daher.“ schimpfte sie.
Dann dachte sie an Leon, den Sohn von den Freunden ihrer Eltern.
‚Oh Gott, wie muss es jetzt für ihn sein! Vor neun Monaten wurde er aus dem Windelgesetz entlassen und nun ist er ihm wieder unterworfen. Gut, er hat seine Schwester auch genug damit geärgert, aber trotzdem ist das für ihn schon krass. Ich werde ihn anrufen und fragen, ob er reden möchte.“
Der erste Schultag nach den Weihnachtsferien bot in der Schule ein völlig verändertes Bild. Bis auf wenige Schüler waren alle in rosa und blauen Overalls gekleidet und damit als Windelträger erkennbar. Die Jungs, die bisher Valerie und die anderen Mädchen, die schon länger dem Windelgesetz unterworfen waren, verspottet hatten, waren jetzt sehr kleinlaut. Sie versuchten allen Blicken aus dem Weg zu gehen, was ihnen aber nicht immer gelang.
An einem Samstag zwei Wochen später, Max war mit seinen Eltern übers Wochenende verreist, ging Valerie mit Sophia in die Stadt. Sie wollten zum Kaffeetrinken und sehen, in welche Läden sie noch selbstständig gehen konnten. Zu ihrem Erstaunen standen an den Eingängen zu den großen Kaufhäusern Jungs, die nicht dem Windelgesetz unterworfen waren und boten an, gegen eine Gebühr die Windelträger mit Laufgeschirr und Leine zu führen. Vor einem der Kaufhäuser stand ein gutaussehender Junge, der sie freundlich anlächelte und ein Schild „Leinenservice für Mädchen“ hochhielt.
„Ui schau mal, der sieht ja wirklich süß aus!“ rief Sophia spontan, als sie an dem Eingang vorbeikamen und wurde rot im Gesicht.
„Dann lass uns ganz schnell nach Hause gehen und die Laufgeschirre holen.“ antwortete Valerie mit einem Grinsen.
Eine Stunde später waren sie wieder vor dem Kaufhaus und der Junge stand noch mit seinem Schild vor dem Eingang. Findige Geschäftsleute hatten auch einen Button entwickelt, bei dem sich die verbleibenden Tage als Windelträger einstellen ließen und mit einer Klammer an der Latzhose befestigt werden konnte. Valerie hielt das nicht für nötig, da sie ja mit Max zusammen war, aber Sophia hatte sich aber einen besorgt und zu Hause an dem Träger ihrer Hose angebracht. Beide Mädchen vergaßen auch nicht die Blankobescheinigung für den Leinenführer, die sie ihren Eltern aus dem Kreuz geleiert hatten.
„Frag doch mal, ob er uns beide führen darf.“ flüsterte Sophia.
Valerie lächelte sie an und ging auf den Jungen zu.
„Hallo, ich bin Valerie und die hinter mir ist Sophia. Wir würden gerne zusammen ein bisschen durch das Kaufhaus bummeln, aber ich weiß nicht, ob du uns beide an die Leine nehmen darfst.“
„Hallo, ich bin Jens. Leider darf ich das nicht, aber ich habe noch einen Kumpel, der könnte gleich hier sein.“ antwortete der Junge und ihm fiel auf, wie Sophia ihn anstrahlte, als sie ihm ihr Laufgeschirr entgegenhielt.
Während sie warteten, ließ sich erst Valerie ihr Laufgeschirr von Sophia anlegen, die stellte sich dann vor Jens und breitete die Arme aus.
„Ich habe noch nie einem Mädchen das Laufgeschirr angelegt.“ meinte er verlegen.
Sophia lächelte ihn an und legte den Kopf ein bisschen auf die Seite.
„Du schaffst das schon!“ flötete sie.
‚Wow, jetzt will sie es aber genau wissen!‘ dachte sich Valerie.
Als Jens ihr das Laufgeschirr über die Schultern gelegt hatte, lies Sophia ihn auch nach dem Schrittriemen durch ihre Beine greifen und als er gerade die Verschlüsse einrasten lassen wollte, drehte sie ihren Kopf zu ihm.
„Du darfst die Riemen gerne auch fest anziehen!“ flüsterte sie ihm zu, worauf Jens ziemlich rot im Gesicht wurde.
Valerie drehte ihnen beiden den Rücken zu, damit sie nicht mitbekamen, wie sie grinsen musste. Dabei sah sie einen weiteren Jungen auf sich zukommen, der wohl der Kumpel von Jens sein musste.
„Ich bin Florian. Jens hat mich angerufen, ihr wollt zu zweit in den Laden?“
„Ja, so ist es.“ sagte Valerie und gab ihm ihre Leine.
Fertig ausgerüstet betraten die vier das Kaufhaus. Jens bemerkte sehr schnell, dass sich Sophia nicht wirklich für irgendwelche Klamotten oder sonst etwas interessierte. Auch Valerie sah am Gesichtsausdruck ihrer besten Freundin wo oder besser bei wem ihre Gedanken waren.
„Ich würde mir gerne etwas im zweiten Stock anschauen, die zwei“ dabei deutete sie auf Sophia und Jens, „sind wohl hier noch beschäftigt.“
„Japp, das glaube ich auch.“ meinte Florian trocken.
Im zweiten Stock war ein Restaurant und Valerie lud ihren Leinenführer auf einen Kaffee ein. Sie plauderte und Valerie erfuhr, dass Florian in festen Händen und Jens seit längerem Single war. Nach einer guten Stunde gingen beide wieder aus dem Kaufhaus und nachdem von Sophia weit und breit nichts zu sehen war, beschloss Valerie nach Hause zu gehen. Dabei stellte sie fest, dass sie noch solange in dem Laufgeschirr bleiben musste, bis sie jemand mit einem Schlüssel dafür gefunden hatte. Am Sonntag versuchte sie ein paarmal ihre Freundin anzurufen, aber Sophia ging nicht an ihr Handy, was für sie sehr ungewöhnlich war.
Am Montag fiel auch Max auf, dass Sophia dauerlächelnd durch die Schule schwebte. Valerie war klar, was am restlichen Wochenende passiert war und erzählte ihm die Geschichte.
„Was, du bist bei einem Florian an der Leine gelaufen?“ fragte er mit großen Augen.
„Ja, warum nicht? Er war ein nett und er hat eine Freundin.“ antwortete Valerie mit einem Augenzwinkern.
„Okay …“ kam von Max lang gezogen, woraufhin Valerie ihre Hände an seine Backen legte und er einen langen Kuss bekam.
Für Valerie änderte sich in der Schule nicht viel, außer dass sie nur noch sehr wenig verspottet wurde. Das Einzige, was ihr wirklich Sorgen bereitete, waren die Theaterproben und die Gewissheit, dass das Stück aufgeführt werden sollte. Sie hatte Sophia in langen Gesprächen erzählt, wie ihre Zeit im Luisenheim aus ihrer Sicht abgelaufen war und was sie dabei empfunden hatte. Sie hatten vereinbart, dass Valerie nicht dabei war, wenn dieser Teil geprobt wurde. Allerdings je öfter die Theatergruppe mit dem Stück beschäftigt war und sie nicht wusste, wie es gespielt wurde, umso neugieriger wurde sie.
‚Wie die das wohl machen?‘ fragte sie sich.
Zwei Monate später hielt sie es vor Neugier nicht mehr aus und versteckte sich im Probenraum. Was sie da zu sehen bekam, übertraf Valeries Erwartungen. Sophia und die Anderen spielten die Entführung so gut, dass sie sich fast wieder zurückversetzt fühlte. Mit Entsetzen verfolgte sie die Szenen und konnte sich nur mit großer Mühe ruhig halten. Natürlich war der Teil, wo sie mit nacktem Unterkörper und fixiert auf dem Wickeltisch gelegen hatte, in der Form nicht nachspielbar, aber auch die symbolische Darstellung brachte Valerie an ihre Grenzen und trieben ihr die Tränen in die Augen. Durch Zufall wollte gerade dann einer der jüngeren Schauspielerinnen aus dem Schrank, in dem sie sich versteckt hatte, etwas herausholen.
„Valerie, was machst du denn hier?“ rief sie entsetzt.
„Äh, ich ich, äh, ich war neugierig“, stotterte sie und kam aus dem Schrank heraus.
Ihr war anzusehen, wie sie die Szene mitgenommen hatte und Max nahm sie sofort in den Arm.
„Das sollst du doch nicht machen, mein Schatz!“ sagte er beruhigend. „Du bist die Richterin und erst sehr viel später dran."
„Du hast ja Recht, das hätte ich nicht machen sollen. Ich kann euch aber sagen, so wie ihr das spielt, war es wirklich.“
Zu ihrer Überraschung fing sich Valerie wieder sehr schnell und nahm dann an allen Proben teil. Es war, wie Frau Drechsel gehofft hatte, die Sicht von außen half ihr bei der Verarbeitung.
Das Theaterstück sollte eigentlich im Juni nur einmal vor maximal 900 Zuschauern aufgeführt werden, aber die Nachfrage war so groß, dass man sich darauf einigte, es viermal zu zeigen, umso dem Leinenzwang für die Schauspieler zu umgehen.
Als Valerie, die die Richterin bei dem Prozess spielte, vor der Generalprobe das erste Mal in ihrem Leben eine Robe überstreifte, überkam sie ein bisher nie gekanntes Gefühl der Erhabenheit.
‚Genau das will ich später mal machen, genau das‘ dachte sie sich.
Die Rolle war für sie nicht nur ein Spiel, sie fühlte sich, als ob sie ihre Bestimmung gefunden hätte.
Bei der ersten Aufführung wollte sie es noch besser machen. Sie schritt noch erhabener als bei der Generalprobe und übersah vor lauter Konzentration den Stuhl, der ihr im Weg stand und lag dadurch der Länge nach auf dem Boden. Sofort waren Max und Vivien zur Stelle und halfen ihr aufzustehen.
„Frau Richterin, haben sie sich wehgetan?“ fragte Helena geistesgegenwärtig, die die Rolle einer Beisitzerin spielte.
Valerie lief knallrot an und humpelte auf ihren Platz.
„Nein, geht schon.“ brachte sie mühsam heraus.
Sie warf Helena einen dankbaren Blick zu und fuhr dann fort.
Das Theaterstück wurde ein großer Erfolg und die Gruppe musste noch drei weitere zusätzliche Aufführungen spielen. Es hatte sich in der Stadt herumgesprochen und nach jeder Vorstellung gingen die Zuschauer mit nachdenklichen Gesichtern nach Hause.
Kapitel 17 – Keine Windeln mehr?
Zwei Wochen vor ihren 18. Geburtstag hatte Valerie Kopfschmerzen und fühlte sich krank, als dann auch noch ein Brief vom Jugendamt im Briefkasten lag, war sie für den Tag vollends bedient.
„Schmeiß ihn einfach ungeöffnet weg, in zwei Wochen können die mich mal. Ich will gar nicht wissen, was da drinsteht.“ meinte sie sehr unwirsch zu ihrer Mutter.
Petra verdrehte nur die Augen und öffnete ihn ohne ihre Tochter.
‚Sehr geehrter Herr Müller, sehr geehrte Frau Müller,
ab dem 03.08.2019 wird ihre Tochter nicht mehr dem Windelgesetz unterworfen sein. Nachdem das eine große Umstellung für sie bedeutet, bitten wir Sie, einen offiziellen Termin bei unserer Frau Dr. Drechsel zu vereinbaren, damit wir Ihnen die Möglichkeiten während einer Übergangszeit erläutern können.
Mit freundlichen Grüßen
Dieter Dachser
Leiter Jugendamt
Ihre Mutter erzählte Valerie erst zwei Tage später von dem Inhalt des Briefes, nachdem sie wieder gesund war und deutlich bessere Laune hatte.
„Hm, was wollen die von mir? Das schönste Geschenk an dem Tag wäre, die Klamotten auf einen Haufen zu werfen und sie anzuzünden!“ meinte Valerie spontan.
Aber nachdem das Gespräch bei Frau Drechsel stattfinden sollte, vereinbarten sie, dass der schon ausgemachte Termin dann das offizielle Gespräch mit ihren Eltern werden sollte.
Sie trafen sich zuerst im Nebengebäude des Jugendamtes, aber Valerie bestand darauf, in den Raum B6 zu gehen.
„Wo es begonnen hat, soll es auch enden!“
Als alle in dem Raum Platz genommen hatten, begrüßte sie Frau Drechsel und begann mit dem offiziellen Teil.
„Valerie, du bist eine der ältesten, die sich dem Windelgesetz unterwerfen musste und deswegen die Erste, die demnächst daraus entlassen wird. Ich weiß, deine Freundinnen, die sich freiwillig dem Gesetz unterworfen haben, sind ja ein bisschen älter und waren deswegen früher dran, aber das tut hier nichts zur Sache. Du hast mir ja schon erzählt, wie du dich an das Tragen von Windeln gewöhnt hast und du bist nicht die Einzige, der das so geht. Aus dem Grund soll in einer Studie festgestellt werden, wie lange es dauert, bis aus Windelträgerinnen wieder Toilettengängerinnen geworden sind. Diese Studie ist natürlich völlig anonym.“
„Du Carola“, antwortete Valerie, sie war mit Frau Drechsel schon lange per du, „im Prinzip kein Problem, aber ich darf schon davon ausgehen, dass das Jugendamt mir solange Windeln zur Verfügung stellt, bis ich wieder trocken geworden bin?“
„Das erste halbe Jahr auf alle Fälle und dann werden wir weitersehen. Ich gehe nicht davon aus, dass du länger als nötig mit Windeln zu tun haben willst.“
Frau Drechsel lächelte bei den Worten.
Valerie hatte sich am Vorabend des Gespräches mit Max intensiv über die Zeit nach den Windelgesetz Gedanken gemacht. Mitten in der Pubertät war das für sie alles wirklich sehr schrecklich gewesen, aber seitdem hatte sie niemand mehr lüstern angesehen oder versucht, sich ihr unangenehm zu nähern. Wenn sie beide ab ihrem 18. Geburtstag die Schlüssel für ihre Kleidung in der Hand hatten, waren sie frei, ohne dass Außenstehende davon wussten. Nach einem langen Gespräch waren die beiden sich einig, weiter so zu tun, als ob sie dem Windelgesetz unterworfen wären.
„Hm, ich weiß nicht. Wenn ich dann den Schlüssel für die Klamotten habe und weiter Windeln trage, dann bleibe ich für alle anderen in dem Status als Windelträgerin. Dadurch bin ich weiter geschützt und das war ja wohl der Sinn dieses Gesetzes. Allerdings das Gitterbett kann das Jugendamt wieder abholen, aber bitte erst am 4. August“, gab Valerie ebenfalls lächelnd zurück.
Frau Drechsel und ihre Eltern waren vollkommen überrascht, sie hätten nie damit nicht gerechnet, dass Valerie den Spieß einfach umdrehen würde.
Es dauerte eine Zeitlang, bis Frau Drechsel darauf eine Antwort einfiel.
„Ähm, dass ich es richtig verstehe, du willst also weiter als Windelträgerin zu erkennen sein und auch weiter Windeln wirklich tragen?“
„So haben Max und ich uns das vorgestellt.“
„Und wie lange wollt ihr das machen?“
„Och, wir haben jetzt noch ein Jahr Schule und dann wollen wir Jura studieren …“.
Valeries Eltern und Frau Drechsel konnten nicht glauben, was sie gerade gehört hatten.
„Kannst du mir sagen, warum du auch das Gitterbett noch eine Nacht länger haben willst?“ fragte ihr Vater, um Zeit zu gewinnen.
Auf die Frage konnte sich Valerie ein dickes Grinsen nicht verkneifen.
„Das ist eine persönliche Sache zwischen Max, mir und dem Gitterbett!“
„Aber dann braucht ihr ja bei Veranstaltungen mit mehr als 1000 Menschen das Laufgeschirr und jemand, der euch führt!“ meinte ihre Mutter verständnislos.
„Warum sollten wir das brauchen? Erstens steht nirgendwo, dass die Klamotten nur Windelträger anhaben dürfen und wenn wir unsere Persos zeigen, ist alles gut. Zweitens könnten wir dafür was anderes anziehen, dann dürfen wir ja sowieso ohne das Zeug herumlaufen.“
Frau Drechsel sah, dass Valerie von ihrer Meinung nicht abzubringen und es besser war, dass nicht weiter zu vertiefen. In den Vorgaben für dieses Gespräch stand auch noch ein anderes Thema.
„Okay, es ist klar, dass der Übergang wieder eine Toilette zu benutzen nicht von heute auf morgen gehen kann. Aber ich bitte euch, es nicht auf den Sankt-Nimmerleins-Tag zu verschieben und ich möchte mit dir auch noch ein anderes Thema ansprechen. Bei diesem Gespräch soll es nämlich auch um Verhütung und die Vermeidung einer ungewollten Schwangerschaft gehen.“
Valerie war jetzt so richtig in Fahrt und hatte das Gefühl, vor lauter Kraft kaum laufen zu können. Sie hatte einen großen Spaß, Antworten zu geben, mit denen ihre Eltern und Frau Drechsel bestimmt nicht rechneten.
„Oh, okay. Was willst du wissen?“
„Valerie!!“ rief ihre Mutter entsetzt.
„Passt auf, in zwei Wochen ist der ganze Spuk mit dem Zwang vorbei und ich bin ein freier Mensch. Meint ihr wirklich, dass ich vollkommen bescheuert bin und mich nicht informiert habe?“
Nach dieser Antwort war klar, dass Valerie kurz vor dem Ende ihrer Windelpflicht kein Interesse an einer weiteren Bevormundung hatte. Sie unterhielten sich noch eine Zeitlang über eher belanglose Dinge und nach einer guten Stunde war das Gespräch beendet.
In der Woche vor ihrem 18. Geburtstag lag wieder ein Brief im Briefkasten vom Jugendamt, der diesmal an Valerie direkt adressiert war. Sie dachte, dass es sich lediglich um eine Zusammenfassung ihres Entlassungsgespräches handelte und als sie mit Max in ihrem Zimmer war, öffnete sie ihn.
Sehr geehrte Frau Valerie Müller,
hiermit setzen wir Sie in Kenntnis, dass für alle dem Windelgesetz Unterworfenen, die nach dem 01.08.2019 daraus entlassen werden, die Pflicht zum Tragen der gesicherten Kleidung und das Verbot der Benutzung von Toiletten in der Öffentlichkeit grundsätzlich um sechs Monate verlängert worden ist.
Das soll Ihnen als Betroffene ermöglichen, sich kontrolliert an das Tragen von eigener Kleidung zu gewöhnen. In dieser Gewöhnungsphase dürfen Sie die Wohnung ohne gesicherte Kleidung nur mit vorheriger Erlaubnis des Jugendamtes verlassen.
Für Sie bedeutet das im Einzelnen, dass sie den Schlüssel für die Kleidung ausgehändigt bekommen, ihn aber nur im häuslichen Bereich verwenden dürfen. Die Leinenpflicht ist bei Veranstaltungen sowie an Bahnhöfen und Flughäfen für Sie aufgehoben. Darüber hinaus dürfen Sie auch wieder in Länder reisen, in denen das Windelgesetz nicht gilt.
Wir bitten Sie, uns den Erhalt dieser Anweisung zu bestätigen und verbleiben
mit freundlichen Grüßen
Dieter Dachser
Jugendamt
Valerie war fassungslos, mit Tränen in den Augen sprang sie auf und schüttelte verzweifelt den Kopf.
„Das gibts doch nicht, das kann doch gar nicht sein!“ schrie sie. „Jetzt waren es diese verdammten drei Tage, wegen denen ich den ganzen Sch… überhaupt machen musste und jetzt bin ich schon wieder die Einzige, die nicht damit aufhören darf!“
Dann setzte sie sich wieder neben Max auf ihr Bett und heftig zum Schluchzen an. Der erkannte sofort den Zustand seiner Freundin und nahm sie fest in den Arm.
„Hör zu mein Schatz“, sagte er, als sich Valerie wieder ein bisschen beruhigt hatte. „Wir haben doch gesagt, dass wir beide solange verschlossen bleiben, bis du 18 geworden bist und jetzt machen wir das halt in der Öffentlichkeit noch ein halbes Jahr länger. Wir hatten das doch eh vor und unsere Reise dürfen wir auch machen, also ändert sich doch eigentlich gar nichts.“
Valerie sah ihn mit verweintem Gesicht an und schüttelte wieder den Kopf.
„Schatz, darum geht es gar nicht. Du, Sophia, Helena und Vivien, ihr seid schon entlassen und könnt machen, was ihr wollt. Nur ich werde wieder einem Zwang ausgesetzt, warum? Warum nur?“
Es wurde für Max ein anstrengender Abend, es dauerte sehr lange und er brauchte viel Einfühlungsvermögen, um seine Freundin davon zu überzeugen, dass auch er immer in der Öffentlichkeit die gesicherte Kleidung und damit auch Windeln tragen würde, solange sie das machen musste. Ihm gelang es Valerie davon zu überzeugen, sich nicht wieder einen Geburtstag verderben zu lassen. Allerdings konnte er nichts an Valeries grundsätzlicher Wut darüber, dass wieder nur sie betroffen war, ändern.
Auch am nächsten Tag kam in ihr wieder der Ärger hoch. Sie lief schimpfend durch die Wohnung und machte sogar ihre Mutter für ihre späte Geburt verantwortlich. Max ließ seine Freundin mit ihrer Wut kurz alleine und telefoniert mit Frau Drechsel.
„Ja, Max, ich habe diesen Blödsinn auch gelesen und das Valerie stinksauer ist, wundert mich kein bisschen. Lass sie sich noch fertig abreagieren und dann sag ihr eine kurze Nachricht an mich reicht und ihr könnt in normaler Kleidung aus dem Haus.“
Am 2. August, dem Tag vor Valeries 18. Geburtstag, versammelten sich beide Familien in der Wohnung der Müllers und begannen den Abend mit einem sehr schönen Essen. Die Eltern hatten geplant, um kurz nach Mitternacht Valerie und Max feierlich die Schlüssel zu ihrer Kleidung zu übergeben und dann zu den Eberl´s zu gehen.
Je näher aber Mitternacht rückte, umso nervöser und unsicherer die beiden wurden. Ihre Eltern bemerkten, dass sie immer wieder Blicke austauschten und krampfhaft versuchten, sich über irgendwelche Themen zu unterhalten.
‚Schau an, schau an, vor zwei Wochen hatte sie bei Frau Drechsel noch ganz dicke Hosen an und jetzt wird sie immer kleinlauter‘, dachte sich Valeries Mutter und konnte sich ein Schmunzeln kaum verkneifen.
Als sie um Mitternacht durch das offene Fenster die Kirchturmuhr schlagen hörten, stießen sie mit Sekt an und wünschten Valerie alles Gute zum Geburtstag. Danach wollten ihre Eltern eigentlich die Beiden sehr bald alleine lassen, aber die waren jetzt so nervös, dass sie leicht rote Gesichter und Valerie feuchte Augen hatte.
„Hey, ihr zwei, alles ist gut. Macht euch einfach einen schönen Abend und lasst euch nicht stressen. Niemand verlangt irgendetwas von euch.“ beruhigte sie der Vater von Max.
Dann verabschiedeten sich ihre Eltern und die beiden standen im Flur und schauten sich immer noch unsicher an.
„Komm, lass uns die Klamotten oben aufsperren.“ meinte Max vorsichtig.
Sie holten die Schlüssel vom Wohnzimmertisch und gingen in Valeries Zimmer.
„Ich sperre dich auf und du mich?“ fragte Valerie, nachdem sie sich wieder eine Zeitlang unschlüssig gegenüber gestanden hatten.
Max nickte, nahm einen Schlüssel und schloss die Träger von Valeries Latzhose auf, dann machte Valerie dasselbe bei Max. Nachdem die Latzhosen am Boden lagen, sahen sie sich lange in die Augen und wiederholten zögerlich das Gleiche mit ihren Bodys. Nachdem auch die geöffnet und ausgezogen waren, standen sie sich nur in Windeln und T-Shirts gegenüber.
„Gehen wir zusammen duschen?“ fragte Valerie leise.
Als sie sich im Bad ihrer Windeln und T-Shirts entledigt hatten, standen sie das erste Mal nackt voreinander.
In der Dusche legte Valerie als erste ihre Zurückhaltung ab und fing an, Max einzuseifen. Nach dem Duschen gingen sie in ihr Zimmer und nachdem sie getestet hatten, ob sie mit dem Türöffner das Gitterbett auch von innen öffnen konnten, legten sie sich beide hinein und schlossen die Gittertüre.
Die nächsten Tage verbrachten sie damit, sich mit neuer Kleidung einzudecken. Auch wenn sie wegen Valeries Verlängerung meistens noch in der abschließbaren Latzhose und Windeln in die Öffentlichkeit gingen, wollten sie doch die Möglichkeit haben, mit der Erlaubnis von Frau Drechsel nicht als Windelträger erkennbar zu sein.
Allerdings war von der Regierung der Unmut über die Verlängerung für 18-jährige gewaltig unterschätzt worden. Nicht nur die Betroffenen leisteten massiven Widerstand, auch die Jugendämter und die Kontrollbehörden sahen sich nicht in der Lage, die Vorgaben umzusetzen. Nachdem auch das Verfassungsgericht durchblicken ließ, die Änderung für verfassungswidrig zu erklären, wurde diese von der Regierung ganz schnell wieder zurückgezogen.
Valerie war nach der Bekanntgabe der Entscheidung die Erleichterung anzusehen, denn ihr war mal wieder nichts anderes übrig geblieben, als sich damit abzufinden. Ihr war zwar durch Frau Drechsel alle Brücken gebaut worden, aber allein die Tatsache, wieder einem Zwang ausgesetzt zu sein, hatte sie doch sehr mitgenommen.
Ein paar Tage später hatte ihr Vater Valerie gefragt, ob er den Wickeltisch wieder abbauen sollte, aber damit stieß er auf wenig Begeisterung. Sie verriet ihm nicht, dass sie und Max daran Gefallen gefunden hatten, sich vor allem am Abend darauf gegenseitig zu wickeln und sich damit sehr viel Zeit zu lassen.
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