Hier kommt nun die miese Geschichte aus der Sicht von Mike, dem Klassenkameraden von Siggi. Auch die ist mir „auf wundersame Weise“ zugetragen worden. [(c) A-O, 2020]
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Siggi – so wie ich die Sache sehe
Der Schulpsychologe sagt, es wäre gut, wenn ich (und alle anderen in der Klasse) meine Beziehung zu Siggi versuchen würde aufzuschreiben. Das würde mir helfen, ihn zu verstehen. Aber ich habe so den Verdacht, er will mich bzw. uns nur aushorchen. Er wird vermutlich meine Beschreibung dazu verwenden, um den Siggi wegzusperren, weil der ja schon immer „anders“ gewesen sei. Wir bräuchten auch keine Namen drauf schreiben, es soll anonym bleiben. Ja, was will ER denn dann damit? Also mein Geschreibsel kriegt der nich. Aber er hat irgendwie schon recht, dass es hilft, mal aufzuschreiben, was da los war.
Ist schon komisch, aber seitdem ich mit Siggi befreundet bin – wobei er das nie Freundschaft nannte, er hat nie zu irgend jemandem „Freund“ gesagt, von Freundin ganz zu schweigen – kommen mir öfter solche Gedanken. Irgendwie habe ich den Eindruck, dass er auf mich einen gewissen Einfluss ausübt.
Mich beeindruckte schon von Anfang an, wie ruhig er sich verhielt, wie er es immer schaffte, aus brenzligen Situationen herauszukommen, und wenn es nicht ging, einfach ohne zu reagieren, alles über sich ergehen ließ. Ja klar, „von Anfang an“ ist natürlich übertrieben. Richtiger wäre „seitdem ich ihn wahrgenommen habe“, noch besser: „seitdem ich ihn interessant fand“.
Wahrgenommen hat ihn jeder. Aber nicht gerade im positiven Sinn. Schließlich ist er anders. Meine Mama sagt, er sei inkontinent, ich soll nett zu ihm sein, er könne nichts dafür, dass er sich einpullert. Mann, wie schrecklich muss das sein! Andererseits stell ich mir das gar nicht so schlimm vor, wie er Windeln zu tragen. Nun ja, ich hab gut reden, ich brauche ja auch keine. Aber das Gefühl, welche anzuhaben, das ist schon sehr angenehm. Nicht dass ich jetzt auch für krank gehalten werde, aber ich soll ja aufschreiben, was mir so durch den Kopf geht, wenn ich an Siggi denke.
Viel kann ich nicht über ihn sagen, bzw. schreiben. Ich kenne ihn ja kaum. Zwar gehen wir seit Schulbeginn in dieselbe Klasse, aber da er sich immer so zurückhielt, nie auf jemanden zukam, nie etwas fragte, nie um etwas bat, hatte wohl niemand wirklich Kontakt mit ihm. Sogar die Lehrer fanden sein Verhalten auffällig. Was für ein Witz: dabei war er gar nicht auffällig. Ganz im Gegenteil. Nun ja, manchmal fiel er dann doch auf. Aber nur, wenn man ihn genau beobachtete.
Das hab ich von ihm abgeguckt: Beobachten. Erst mal abchecken, was los ist, dann reagieren – oder auch nicht. Ich weiß noch ganz genau, als ich sein Verhalten nachmachte und deshalb völlig unbeschadet aus einer kniffligen Situation entkommen konnte. Seitdem bewundere ich ihn.
Ist mir mittlerweile völlig egal, dass er Windeln tragen muss. Mama sagt, das hieße bei den Größeren Inkontinenzmaterial. Was für ein Schwachsinn. Wer will so ein langes Wort aussprechen? Wer will eigentlich überhaupt darüber sprechen?
Irgendwann kam unserer Klassenlehrerin in den Sinn, es wäre gut, wenn die Schüler „aufgeklärt“ wären, dass es andere gibt, die eben sowas haben. Sie verlangte, dass alle einen Aufsatz schreiben zum Thema „Anders sein“. Ich wollte über Siggi schreiben, aber es fiel mir nichts Vernünftiges ein. Da erst wurde mir klar, wie wenig ich von ihm wusste, wie wenig er von sich preis gab. Eigentlich nichts. Nach einer halben Seite habe ich aufgegeben, über ihn etwas schreiben zu wollen, mir fiel eben einfach nichts ein, was ich hätte schreiben können.
Da Mama im Sanitätshaus arbeitet, habe ich über Leute geschrieben, die aufgrund von Krankheiten, dort Dinge bekommen, die es ihnen erleichtern, mit ihrer Krankheit zurechtzukommen. Das Thema Inkontinenz habe ich nicht erwähnt. Es war mir viel zu peinlich. Trotzdem habe ich eine Eins für meinen Aufsatz bekommen. Vermutlich, weil ich genau den Punkt getroffen hatte, den die Lehrerin wollte.
Siggi hat über Aggression geschrieben, irgendwas mit Gewalt unter Schülern. Na klar, wie immer hat auch er eine Eins bekommen. Ich frag mich, wie er das immer macht.
In Mitarbeit hat er aber keine Eins. Er meldet sich nie. Er gibt nur Antwort, wenn er gefragt wird. Und da das immer die richtigen sind, kann ihm kein Lehrer was anhaben. Ach so, Hausaufgaben hat er auch manchmal nicht gemacht. Aber selten. Und auch dann nur, wenn es darum ging, etwas über sich selber vorzutragen.
Ein Mal, in Deutsch, da konnte er nicht ausweichen. Wir sollten uns ganz spontan ein Gedicht ausdenken. Es brauchte sich nicht zu reimen, sagte Frau Mars, die Lehrerin, Hauptsache, die eigenen Gedanken kämen darin zum Ausdruck. Sie gab uns 15 Minuten Zeit zum Aufschreiben. Ich habe irgendwas mit Natur verfasst, ich glaube, die meisten anderen auch. Na jedenfalls wollte sie dann ein paar der Gedichte vorgetragen bekommen. Um die Betonung würde es ihr gehen, die sei bei Gedichten besonders wichtig. Na klar hat sich niemand freiwillig gemeldet. Also hat sie angefangen, sich Leute rauszupicken. Also ganz ehrlich, ich war froh, dass sie mich nicht aufgerufen hat. Gedichte schreiben, das ist doch Mädchenkram. Das wurde auch bewiesen, als die Mädels ihre Verse vortrugen. Die Jungs hatten entweder gar nichts oder im wahrsten Sinne des Wortes nur „ungereimtes Zeugs“ zu bieten.
Dann fiel ihr Blick auf die hinterste Bank, auf den Platz gleich neben der Tür. Jetzt gab es für Siggi kein Entkommen. Es wurde ganz still. Die meisten haben wahrscheinlich gehofft, dass er auch nichts vorzuweisen hatte, aber es kam ganz anders. Als er sich räusperte, hab ich mir noch gedacht: ‘jetzt wird’s lustig’, wie immer, wenn Siggi Verse von sich gab. Ich zückte meinen Stift, um mitzuschreiben.
Siegfried – sich erst besiegen, dann ist Frieden
Ein kleiner Raum, darin allein, vielleicht für immer.
Keiner fragt mehr, noch hat jemand einen Schimmer.
Allein wird man geboren, allein wird man gelassen.
Gut ist’s, allein zu sein, für den, den alle hassen.
Kühl ist die Nacht. Kalt sind nur Herzen.
Willkommen sind die eig’nen Schmerzen.
Bald schon ist das Dutzend voll,
die zweite Hälfte, nur Prüfung wohl.
Da seht, das wird er sein, der Weg hinaus.
Ein Rot breitet sich flächendeckend aus.
Mondlicht dringt durch’s schmale Fenster seidenmatt.
Leid gibt’s nur für den, der etwas hat.
Ich konnte nicht glauben, was ich da aufgeschrieben hatte. Meine Unterarme sahen aus wie frisch gerupfte Hühnchen. Ich könnte schwören, dass da am Fenster Eisblumen waren. Wir hatten Mitte Mai. Frau Mars sah aus, als hätte sie sich beim Zuhören mit Tafelkreide geschminkt, also irgendwie deutlich blasser als sonst. Keiner rührte sich. Dann kam zum Glück das erlösende Pausenklingeln.
Was Siggi für eine Note bekam, weiß ich nicht. Sicherlich wiedermal eine Eins. Wie immer.
Von mir hätte er eine Sechs bekommen.
Nach dem Unterricht schwatzten die meisten weiter, wie sie es ja schon fast den ganzen Tag taten. Siggi war anders. Wenn jemand fragte, was man anstellen könne, um der Langeweile zu entgehen, hatte er die besten Ideen. Logisch, dass wir oft später nachhause kamen, als wir sollten. Ihn hat es nie interessiert, ob wir deshalb Ärger bekamen. Er hat auch nie erzählt, ob er zuhause Ärger bekommt. Er hat eigentlich nie etwas von zuhause erzählt. Wir dachten alle, das läge daran, dass er als Sohn des Bürgermeisters zum Schweigen verdonnert wäre und außerdem sowieso bei allem straffrei ausgehen würde, falls man ihn je erwischt. Deshalb fragten wir auch nicht weiter nach. Aber interessiert hätte es uns schon irgendwie.
Und ich? Ich wollte unbedingt wissen, wie das ist, Windeln tragen zu müssen, wie er. In meiner Fantasie stellte ich mir vor, wie er von seiner Mama, manchmal auch von Papa liebevoll gewickelt wird. Dabei wusste ich, dass er solche Windeln zum Anziehen in der Schule trägt. Manchmal, vor allem im Sport, hat man das gesehen. Aber fast niemand hat das interessiert. Nur wenn Neue in die Schule kamen, oder wenn ältere Schüler mal wieder ein Opfer suchten, da kam das zur Sprache.
Ich hatte aber aus anderem Grund Interesse an Windeln. Ich wollte auch wieder diese mütterliche Fürsorge haben, die Zuneigung von Mama und Papa ganz nah spüren. Und dann dieses unbeschreiblich angenehme Gefühl, diese Geborgenheit. Meine Mama hat mit mir darüber gesprochen. Sie ist total locker. Sogar Siggi findet sie cool. Nun ja, er ist ja öfter bei ihr im Geschäft wegen seiner Sache da.
Merkwürdigerweise hat er nie zugelassen, dass ich dabei sein konnte. Mehrere Male hab ich versucht, „zufällig“ aufzukreuzen, wenn er nach der Schule auf dem Nachhauseweg da hineinging. Es war zu offensichtlich, mein zuhause lag in der anderen Richtung. Jedenfalls habe ich mitbekommen, dass er nicht nur diese Pullups verwendet. Mama hat sich mal verplappert. Ich solle ihm nicht auf den Hintern starren, wenn der dicker wäre als sonst.
Als würde ich einem Jungen auf den Hintern schauen! Bin ich schwul oder was? Mädels finde ich viel interessanter. Aber die mich nicht. Pfff – mir doch egal! Kann sein, dass es an meinen roten Haaren liegt, oder an den Klamotten. Seit ich ein paar alte Bilder von Papa gesehen habe, wollte ich so aussehen wie er. Gerne wäre ich wie er. Mama erzählt von ihm, wenn mir mal wieder wie Heulen zumute ist, weil er nicht mehr da ist. Siggi hingegen lassen die Mädels kalt. Er scheint kein Interesse zu haben.
Na jedenfalls hab ich auch versucht, von ihm zu erfahren, wie das ist, Windeln zu tragen. Seine Reaktion war unerwartet heftig. Scheiße sei es, ganz große Scheiße. Sich einzupissen wie ein Baby sei schlimmer als Pest und Cholera gleichzeitig. Und wenn es dann noch jemand mitkriegt, sei es besser, nie geboren worden zu sein. So fühlt sich das an. Dabei sprühten seine Augen regelrecht Funken.
Das war aber schon eine Weile her. Mittlerweile haben wir besseren Kontakt. Das kann aber nur daran liegen, dass meine Mama sich um ihn kümmert. Sie hat mir auch mal solche Windeln mitgebracht aus dem Laden. „Das sind Probierpackungen“, sagte sie, „also probier es doch einfach aus. Wenn Du Hilfe brauchst, ruf mich einfach.“ Dann hat sie gelächelt. Na klar hab ich mir die Dinger angezogen.
Die Pullups für Große waren kaum zu spüren. Da kam kein Gefühl von wegen Geborgenheit auf. Ich weiß nich mal, ob Mam gemerkt hat, dass ich den ganzen Nachmittag so ein Teil unter der Jeans anhatte.
Die anderen Packungen waren wesentlich interessanter. Diese Dinger sahen aus wie richtige Babywindeln. Nur eben viel größer. Das war schon eher das, was mich interessierte. Und es kam, wie es kommen musste (witzig, dieses Wortspiel), mir kam der Gedanke, diese Windeln auch zu benutzen. Also raffte ich meinen Mut zusammen, bin zu Mam gegangen und habe scheinheilig gefragt, ob ich die Windel so richtig angezogen hätte. Sie guckte sich die Sache an, zeigte mir, wo die Klebebänder richtig hingehören, damit „das Produkt“, wie sie es nannte, nicht auslaufen würde.
Das war genau mein Stichwort. „Und was, wenn ich da mal pullern muss?“ Sie schaute mich ungläubig an. „Na ich denke, du wolltest wissen, wie das ist? Dann mach doch einfach. Dafür hab ich dir die Sachen doch mitgebracht. Wieso fragst du noch? Hast du nicht den Siggi in der Klasse? Der kann dir auch erzählen, wie das ist. Nämlich nicht lustig. Aber ich finde es wirklich toll, dass Du Dich in seine Lage versetzen möchtest.“ Au weia! Wenn sie wüsste, dass es mir nicht um Siggis, sondern um meine Gefühle geht. Nun ja. Gesagt, getan.
Mit dem Einpinkeln hat es eine ganze Weile gedauert. Irgendwie hat es stundenlang nicht geklappt. Es war, als wäre da eine Art Sperre. Es ging einfach nicht. Mama hat nur gefeixt, wie ich alle paar Minuten zu ihr kam und sagte, es ginge nicht. Dann gab sie mir den Tipp, mich auf’s Klo zu setzen. Das hat geklappt. Als es endlich anfing zu laufen, ließ es sich auch nicht mehr aufhalten. Sogar als ich aufstand, lief es weiter und weiter. So muss es sich also anfühlen, wenn man sich ungewollt einmacht.
Wahnsinn. Ich meine, wenn man allein zuhause im Zimmer ist, mag das ja „schön“ sein, aber draußen unter Leuten? Oder in der Schule? Neee, das muss ich nich haben. Jetzt verstand ich wirklich, warum Siggi lieber allein ist, niemanden an sich heranlässt. Schlagartig war mein Wohlgefühl mit der nassen Windel verflogen. Aber der Wunsch, es wieder zu machen, war nicht weg.
Mir war es dann sehr peinlich, als mich später Mam fragte, wie es gewesen sei: „Schön, oder?“ – „Naja – anfangs irgendwie schon, aber als ich an Siggi dachte, was es nicht mehr schön.“ Sie fragte noch, ob ich die benutzte Windel (sie sagte jetzt auf einmal tatsächlich Windel!) ordentlich weggetan habe, dass es nicht anfängt zu stinken.
Woher soll ich wissen, wie man eine Windel „ordentlich“ wegschmeißt? Ab in den Müll und fertig. Also hab ich ihr gesagt, dass ich nicht wüsste wohin mit dem vollgemachten Ding, und dass ich mich nicht traue, damit nach draußen zur Tonne zu gehen. Wenn das jemand sieht, und so. Mam kam mit in mein Zimmer und hat mir gezeigt, wie man das machen sollte, damit es kaum auffällt. Schön zusammenfalten, dann einrollen, dann in eine kleine Mülltüte, die möglichst undurchsichtig ist, dann ab in die Tonne. Hauptsache sei aber, dass man sich beim Wechseln richtig sauber mache. Das sei ganz wichtig, damit die Haut nicht leidet. Mann, was für ein Aufwand, dachte ich mir nur.
Dann fragte sie mich doch tatsächlich, ob ich mir wieder eine angezogen hätte. „Nur so für die Nacht“. Denn das sei ja die Zeit, wo die meisten „Unfälle“ passieren. So auch mir, wenn sie mich mal daran erinnern dürfte. Mit hochrotem Kopf (passend zu meinen Haaren?) stand ich vor ihr, wie damals, als das ein paar Mal passierte. Da war mein Papa gerade weg. Aber Windeln habe ich keine bekommen. Nur so Einlagen im Bett. Die musste ich selber abends reinlegen und wenn sie nass geworden sind, auch selber rausschaffen. Aber es gab nie Schimpfe deswegen. Irgendwie habe ich das damals auch gar nicht so als schlimm empfunden, glaube ich. Erst in der Schule kam die Überzeugung auf, dass solche „Unfälle“ etwas Schlimmes sind, dass jemand, der (noch) ins Bett macht, irgendwie krank sei, zumindest aber nicht normal.
Ich weiß nicht, wie Siggi das empfindet, doch ich vermute mal, dass er darunter leidet. Aber er spricht nie darüber. Wenn man ihn direkt darauf ansprach, hat er zwar ganz offen zugegeben, dass er „es“ nicht halten könne, dass er „IKM“ benutzt, aber was er dabei fühlt, wie er sich fühlt, das hat er nie gesagt. Und wenn jemand weiter gebohrt hat, hat er geschwiegen oder ist einfach weggegangen. Also ich vermute mal, dass es ihn schon belastet hat. Immerhin ist er ja der Sohn vom Bürgermeister. „Gesellschaftlicher Druck“ nennt man das wohl. Was da wirklich für ein Druck war, das hat niemand gewusst. Was im Haus des Bürgermeisters vor sich ging, war ein wohlgehütetes Geheimnis. Jetzt weiß ich auch warum.
Erst vor kurzem kam es dazu, dass ich mit Siggi besseren Kontakt bekam. Sicherlich liegt es daran, dass ich wegen der Windelei eine Art Erfahrungsaustausch anstrebte. Und seitdem ich von Mam, wann immer ich mag, auch Probierpackungen bekam, habe ich das genutzt, um eigene Erfahrungen zu sammeln. Das Gefühl, es sei etwas Schlechtes, kam immer seltener auf. Nur die Furcht vor dem Entdecktwerden empfand ich als höchst unangenehm. Zuhause war das gar kein Thema. Mam hat jedes Mal nur verständnisvoll gelächelt. Und wenn das Paket noch so dick ausfiel. Vor allem nachts fand ich, besser oder ehrlich gesagt, finde ich es sehr angenehm, eine schöne dicke Windel anzuhaben. Manchmal ist die früh sogar etwas nass. Mam sagt nur, das sei nichts Ungewöhnliches. Hauptsache, ich hätte gut geschlafen. Ob Siggi nachts gut mit seiner Verpackung schläft, hab ich mich bis neulich nie getraut zu fragen.
Na jedenfalls ergab sich mal wieder die Gelegenheit, dass ich nachmittags meine Mam vom Laden abholen wollte. Mir war schrecklich langweilig. Hausaufgaben hatten wir genug auf, aber dank Siggi waren die meisten schon in den letzten Pausen abgearbeitet. Siggi war sehr effektiv, wenn es um Hausaufgaben ging. Er sagte immer: „Was du in der Schule machen kannst, das mach da auch gleich. Zuhause gibt es Wichtigeres zu tun.“ Ich habe bisher nie gewusst, was es für ihn Wichtigeres zu tun gäbe. Hat eigentlich niemand gewusst, was er so in seiner Freizeit treibt. Außer Bücherlesen. Das war offenkundig. So viel wie der weiß. Siggi hatte (fast) immer die richtige Antwort parat.
Zurück zu unserem ersten wirklichen Zusammentreffen. Es war also nicht geplant, oder gar gewollt. Ich ging also zum Laden von Mam. Wie immer durch den Hintereingang. Ich war ja kein Kunde, oder wie manche sagen, ein „Patient“. In ihrem Büro war sie nicht. Also setzte ich mich erstmal hin, nachdem ich mir aus der Süßigkeitenschale ’was genommen hatte. Dann hörte ich nebenan die Stimme von Siggi. Ich habe ihn noch nie etwas erzählen hören. Gebannt hörte ich zu. Mam sprach mit ihm wie mit mir. Ganz lieb und verständnisvoll. Dann wurde Siggis Stimme immer leiser, sodass ich nichts mehr verstand. Ab und zu hörte ich aber ein Schluchzen. Konnte das sein? Siggi heult doch nicht etwa? Das konnte ich nicht glauben. Aber ich schämte mich, gelauscht zu haben. Also schlich ich mich zur Hintertür und ließ die etwas ins Schloss knallen und ging, nach Mam rufend, einfach zum Beratungszimmer. Da die Tür offen war, sah ich Siggi auf der Liege an der Wand sitzen. Völlig verheult, nur mit einem seiner alltäglichen langärmeligen T-Shirts bekleidet. Mehr als deutlich war die dicke Windel zu sehen. Er war sichtlich erschrocken. Aber nicht er bekam einen roten Kopf, sondern ich. „Deine Mutti ist gerade im Lager und holt neues Zeug für mich.“, sagte er, überraschend gefasst. „Du, Siggi“, fing ich an herumzudrucksen, „ich muss Dir was sagen. Ich hab gehört, wie du und Mam miteinander gesprochen habt. Ich wünschte, wir könnten auch so miteinander reden. Ich hab niemanden außer Mam. Papa ist schon lange weg.“
Eine Weile war Ruhe. Mam rumorte im Lager, dass man es bis hierher hören konnte. Ich glaube aber, sie machte absichtlich so einen Krach. Denn ich weiß genau, dass das Lager peinlich genau aufgeräumt ist. „Effizienz“ nennt sie das. Wenn Kunden kommen, muss es schnell gehen. Da ist keine Zeit, um lange herumzusuchen. Verstehe ich.
Na jedenfalls guckt mich der Siggi wie ein Häufchen Elend an und sagt doch tatsächlich: „Willst Du mal mit zu mir kommen?“ Das war die erste Frage, die ich aus seinem Mund gehört habe. Aber es muss ihm selber aufgefallen sein, denn er wollte gleich wieder abwiegeln, indem er hinzufügte: „Besser aber nicht. Meine Ellies haben eh was dagegen.“ – „Is mir wurscht.“ erwiderte ich, und muss ein derart freudiges Gesicht gezogen haben, dass er nur sagte: „Na dann warte, bis ich hier fertig bin. Aber draußen. Ich brauch keine Zuschauer.“ Und als ich zögerte: „Und Zuhörer auch nicht.“ Dann grinste er. Es war so ziemlich das schönste Grinsen, dass ich je gesehen hatte.
„Rein zufällig“ kam auch grad meine Mam zurück. Ganz professionell legte sie ein paar der mir nur allzu gut bekannten Probierpackungen neben Siggi auf die Liege und tat dabei so, als wäre es das Normalste auf der ganzen Welt. Ich weiß nich, ob sie oder er gesehen hat, dass ich etwas rot wurde. Ich nahm mir echt vor, Siggi nachher zu fragen, ob er etwas von meiner Windelneugier weiß.
Nach einer geraumen Weile kam er endlich aus dem Laden rausgeschlurft. Also ich hab sofort gesehen, dass er untenrum irgendwie dicker aussah als sonst. Aber da ich mir den Grund denken konnte, gab es auch nichts darüber zu sagen. Ich fragte ihn nur, ob wir nicht gleich einige Sachen für ihn vom Laden mitnehmen könnten. Er erwiderte, dass die Sachen mit dem Auto gebracht würden, und direkt vor der Tür abgestellt werden, das sei viel bequemer, da braucht er die Kartons nur ins Haus zu zerren und fertig.
Das Gehen zu ihm wurde zur Qual. Warum? Meine Neugier war so stark, dass ich vor lauter Aufregung gar nicht wusste, was ich zuerst fragen soll. Ich glaube, bisher war noch nie jemand bei Siggi zu Besuch. Wie wird es bei ihm zuhause aussehen? Als Sohn des Bürgermeisters hat er bestimmt das allerneueste an Technikkram, was es nur gibt. Eigener Fernseher in XXL-Größe. Extrem viel Lego und so weiter. Alles vom Feinsten.
Endlich bogen wir in den Lindenweg ein. ‘Teure Gegend,’ dachte ich mir so, ‘hier lässt sich’s leben.’ Nummer 22 war eine richtig schöne altmodische Villa. Riesig. Mit einem Tor für Autos und einem für Fußgänger. Beide standen offen. Als ich die Auffahrt zum Haus sah, kam mir der Gedanke, dass das kleinere Tor eher der Gesindeeingang sein müsse, denn der Fußweg sah nicht so gepflegt aus, wie die Auffahrt. Irre.
Ich wollte mich schon oben zum Eingang wenden, da hielt mich Siggi zurück und sagte „Hier lang.“ Wir gingen nicht die Auffahrt hoch, sondern blieben am Garagentor stehen, neben dem ganz unscheinbar eine kleine Tür war. Diese schloss er auf und bedeutete mir, ihm zu folgen. Wir kamen also in die Garage und das Erste, was ich sah, war eine riesige Werkbank mit unglaublich viel Werkzeug darüber, darauf und darunter. So viel Werkzeug hab ich noch nie gesehen. Und was es da alles gab! Die Garage war riesig. Nun ja, bei dem Auto das der Bürgermeister sich leistete...
„Geh’n wir hoch in Dein Zimmer?“ fragte ich Siggi. Der guckte mich ganz komisch an. Dann musste er lachen. „Mein Zimmer ist hier unten. Guck mal um die Ecke.“ Tatsächlich. Er machte eine Tür auf, die ich gar nicht so für voll genommen hatte, so unauffällig war sie. Und da lag es vor mir. Siggis Zimmer.
Ungläubig schaute ich ihn an. „Echt jetzt? Hier drinne haust du? Wieso im Keller?“ entfuhr es mir. Irgendwie sah das ganze sehr seltsam aus. Als wäre das Zimmer von der eigentlichen Garage nur mit einer dünnen Wand abgetrennt. Aber es war warm da drin, wenn auch ziemlich dunkel. Licht, also natürliches Licht, kam nur durch ein ganz schmales Fenster herein, das sich weit oben, fast unter der Zimmerdecke befand. Siggi bemerkte meinen verwunderten Blick und erklärte auf mein Nachfragen, dass es nicht anders ginge mit dem Fenster, weil ja draußen der Hang mit der Auffahrt sei. Außerdem könne er ja hier ein und aus gehen, wann immer es ihm passt, ohne dass es jemand mitkriegt. Das wäre doch ein gutes Stück Freiheit, die andere Leute nicht hätten. Dann fügte er hinzu, wie es dazu kam, dass er ein Zimmer hier unten bekam. Der Raum war wohl gedacht, um Fitnessgeräte unterzubringen oder um eine Kellerbar einzurichten. Er würde schon seit vier Jahren hier drin wohnen, eben seitdem sein Problem solche Ausmaße angenommen habe. Er hätte sich daran gewöhnt. Er sagte auch, dass im Haus zwar noch andere Zimmer wären, aber irgendwie würden seine Eltern nicht wollen, dass Besucher ihn mit seinem Problem sehen.
Sein Zimmer war extrem ordentlich aufgeräumt. Zumindest habe ich mir das so gedacht. Bei mir sah es im Vergleich dazu aus wie auf einer Müllhalde. So nennt es jedenfalls Mam. Mir erschien Siggis Ordnung plausibel, denn er hatte wirklich wenig Platz. Alles war ordentlich einsortiert. An der Wand nur Bücherregale. Kein einziges Poster. Das Hochbett direkt neben dem Fenster, darunter der Schreibtisch, der irgendwie zu groß erschien. Aber er war voll. Voller aufgeschlagener Bücher. Der Computer war so ziemlich das einzige, was neu aussah. „Hat die Gemeindeverwaltung günstig abgestoßen“, sagte er.
Das Ding startete in Nullkommanix. Vergeblich suchte ich nach den neuesten Spielen. „Hab ich nich,“ sagte er ganz trocken, „brauch ich nich. Ballern ist völlig bescheuert. Das macht einen doch kaputt im Kopf.“ In der Favoritenzeile nur Erwachsenenkram, also Wikipedia und so Sachen. Spielzeug habe ich keins gesehen. Nur oben auf dem Bett hätte ‘was liegen können, aber da wollte ich nicht extra nachsehen.
Na klar fragte ich ihn, wie er das macht mit dem Windelkram, wo er die Sachen unterbringt, denn hier in diesem Loch könne man doch keinen einzigen Karton mehr reinstellen. Er feixte nur und meinte, das stünde alles in der Toilette nebenan. Und so viel lagert er hier gar nicht. Das sei mit meiner Mam so abgesprochen. Er erzählte auch, dass er seit Schulbeginn, als es sozusagen zum Dauerzustand wurde, sich selber saubermachen würde. Mam hätte ihm gezeigt, wie man das schnell und trotzdem gut machen kann. Er sprach in den höchsten Tönen von ihr. Dass er überhaupt von seinem Umgang mit dem „Problem“ sprach, wunderte mich etwas. Bisher hat er ja immer dazu geschwiegen oder nur Andeutungen gemacht. Sollte er so langsam „auftauen“?
Myriaden Fragen schossen mir durch den Kopf. Vor allem, wo er so seine Kampfsportsachen macht. Dazu braucht man doch wenigstens einen Boxsack oder sowas, wo man drauf hauen kann.
Ach so, das hatte ich ja ganz vergessen, die Sache im Sportunterricht, Anfang des Schuljahres. Das war der Hammer! Im wahrsten Sinne des Wortes.
Dass es in der Schule Starke und Schwache gibt, ist ja wohl logisch. Aber dass ein offen sichtlich „Schwacher“ einen „Stärkeren“ umhaut, das kommt eher sehr selten vor. Im Nachhinein betrachtet, fand ich’s absolut fantastisch, dass ich dabei sein konnte, als das passierte.
Seit diesem Jahr haben die Mädels und Jungs getrennt für sich Sportunterricht, dafür aber die Klassenstufen gemeinsam. Wir Jungs bekamen den Herrn Hanicke. Hintenrum nannten wir ihn „Schinderhannes“, weil der wirklich alles von einem abverlangt hat. Tränen im Sportunterricht waren keine Seltenheit. „Aus euch mache ich noch richtige Männer!“ war sein Lieblingsspruch. Und auf den Siggi hatte er es von Anfang an abgesehen, das hat jeder sofort gemerkt. Die ersten Unterrichtseinheiten verliefen ganz gewöhnlich. Leichtathletik und Sachen mit dem Ball.
Aber dann kamen die Boxweltmeisterschaften und Herr Hanicke war ein riesen Fan von sowas. Einige Jungs auch. Aber nicht aus meiner Klasse. Ich glaube die Jungs aus meiner Klasse standen eher auf Kung-Fu und Karate, Olaf findet Sumo interessant. Sicherlich bloß, weil er selber so dick ist.
Jedenfalls hat der Herr Hanicke uns nach dem Alphabet und eine Klasse gegenüber der anderen antreten lassen, „um herauszufinden, wer die stärkere sei“. So sagte er jedenfalls. „Siggi, du kommst mal her.“ Ich hab gedacht, dass sich Siggi einfach davonschleicht, wie er es eigentlich immer macht, wenn es Ärger geben kann. Aber wortlos ging er mit einem sauren Gesichtsausdruck zu Herrn Hanicke und ließ sich die Boxhandschuhe anziehen. Herr Hanicke versuchte witzig zu sein und sagte: „Na, deinen Sackschutz hast du ja schon dran, Kann ja nichts schief gehen. Ha, ha, ha.“ Einige lachten sogar. Aus unserer Klasse, glaube ich, keiner. Dann rief er den Konrad aus der Parallelklasse zu sich. Das war eine Maschine von Kerl. Riesengroß, ein Kreuz wie sonstwas, muskelbepackt – und immer die große Schnauze. Das hat natürlich die meisten beeindruckt. Wenn der sich jemanden vorgeknöpft hat, hat niemand hingeguckt oder gar etwas gesagt. Es war völlig klar, dass derjenige dann der Nächste sein würde.
In Vorfreude, was jetzt gleich kommen würde, dass er endlich die Gelegenheit bekäme, dem Sohn des Bürgermeisters ganz offiziell eine reinhauen zu können, kam Konrad zu Herrn Hanicke und ließ sich auch die Handschuhe anziehen. Dann baute er sich vor Siggi auf. Siggi reagierte überhaupt nicht, hatte die Arme einfach baumeln lassen und sich wohl seinem Schicksal ergeben. Herr Hanicke laberte noch irgendwas von Fairness und keine Schläge unter die Gürtellinie und dass man erst boxen darf, wenn er pfeift, denn einen Gong wie es sich gehören würde, wolle diese Schule leider nicht anschaffen.
Er trat einen Schritt zurück, nahm die Trillerpfeife zwischen die Lippen --- vor meinem inneren Auge sah ich den Siggi tot umfallen --- und pfiff.
Was dann passierte ging so schnell, dass niemand reagierte. Es krachte mörderisch. Siggi stand da wie aus Stein gemeißelt, die Rechte war gerade nach vorn gerichtet, wo eben noch der Konrad stand. Der lag am Boden und unter ihm breitete sich eine Blutlache aus.
Niemand reagierte.
Ich glaube, alle waren total geschockt. Siggi war der erste, der sich bewegte. Er riss mit den Zähnen die Schnüre der Handschuhe auf, schmiss die dem Hanicke vor die Füße und ging wortlos raus. An dem Tag hab ich ihn nicht mehr gesehen.
Aber jetzt brach Tumult aus. Alle schrien durcheinander. Herr Hanicke schmiss ein Handtuch zu Konrad und brüllte: „Unter den Kopf legen! Sofort!“, dann rannte er in sein Büro. Wahrscheinlich rief er den Notarzt. Denn nach ein paar Minuten kam der auch. Konrad war völlig weggetreten. Es waren mindestens 5 Minuten gewesen, bis er unter den Händen von Herrn Hanicke die Augen kurz aufschlug. Der hatte einen Verbandkasten mitgebracht und versuchte, dem Konrad den Kopf zu verbinden. Seine Hände sahen aus wie in einem schlechten Horrorfilm. Das weiß ich nur, weil ich heimlich mal einen gesehen hatte. „Liegenbleiben! Sven, du holst die Decke aus meinem Büro. Und ihr anderen zieht euch um, für heute ist Schluss hier! Raus!!!“, donnerte er.
Alle haben sofort gewusst, wofür die Decke gut sein sollte – Konrad hatte eine nasse Hose. Seltsam. Da hat niemand gelacht. Aber nur wenige Minuten vorher wurden abfällige Bemerkungen gemacht, weil sich unter Siggis Turnhose seine „IKM“, wie er es nennt, mal wieder abzeichnete. Und zwar deutlich.
Also ich fragte hier nun bei ihm zuhause, wo er denn seine Kampfsportsachen so üben würde, wo denn sein Boxsack hängt und so Sachen. Hat er nicht, sagt er. Er übt mit dem, was gerade da ist. Seiner Meinung nach ist im realen Leben der mögliche Gegner ja auch kein Sack, der da irgendwo herumbaumelt. Wenn ihm so sei, dass er mal übt, wie es sich anfühlt, Schmerzen zu haben, dann nimmt er sich ein dünnes Lederkissen und bindet das draußen in der hintersten Ecke des Gartes an einen Baum. Außerdem müsse man ja nicht unbedingt irgendwo draufschlagen, wenn man wissen möchte, wieviel Schmerz man aushält, dafür kann man sich auch mit etwas Scharfem in die Haut ritzen. Das sei eine sehr gute und effektive Übung. Irgendwie glitzerten seine Augen dabei.
So langsam keimte mir der Verdacht, warum er nur langärmelige Sachen anzieht. Ich hatte mich schon über die vielen parallelen Striche gewundert, die an seinem Arm zu sehen waren, als wir zufällig mal nebeneinander beim Händewaschen waren. Damals hatte ich mir nichts dabei gedacht.
Als ich dann das Lederkissen sehen wollte, am liebsten auch gleich mal ausprobieren, versuchte er erst, es zu verheimlichen, aber ich hatte es schon entdeckt. Es sah ziemlich schlimm aus. Mir wurde es langsam unheimlich. Also wechselte ich lieber das Thema.
Um ihm zu zeigen, dass ich ihm vertraute, erzählte ich ihm, dass ich auch mal wissen wollte, wie es ist, Windeln zu tragen. Sofort erschien eine Falte auf seiner Stirn. Aber die verschwand, als ich ihm sagte, dass meine Mam mir ganz locker welche zum Probieren aus dem Laden mitgebracht hätte. Er fand das total cool. Seine Eltern wären nicht annähernd so locker. Denen sei es extrem unangenehm, einen derart behinderten Sohn zu haben. Zumal in solch einer gesellschaftlichen Stellung. Kann ich absolut nicht nachvollziehen.
Na jedenfalls hab ich ihm als erstem und einzigen gebeichtet, dass ich es irgendwie mag, dieses Gefühl, verpackt zu sein. Ich habe ihm sogar gestanden, dass ich absichtlich in so eine Probierwindel gepinkelt hätte, um zu spüren, wie das ist. Und dass ich es überhaupt nicht schlimm fand. Das sah er allerdings ganz anders.
Sein Argument war, dass man zu unterscheiden habe, ob man sich mal eben aus Jux eine Windel anzieht und da reinmacht, oder ob es ohne Windel nicht geht, weil man sich einmacht, ohne es aufhalten zu können. Na klar gäbe es allerlei Methoden, die das heilen könnten, aber er habe sich mit den Windeln eben abgefunden. Da es mittlerweile eh jedermann weiß, sei es weniger belastend, als die Aussicht, sich im Krankenhaus operieren zu lassen. Zumindest momentan. Außerdem wäre es ja seine Entscheidung, ob er etwas an sich machen ließe. Da würden ihm seine Eltern freie Hand lassen, auch wenn es ihnen natürlich viel lieber wäre, wenn er dieses Problem nicht hätte. Sie meinen, wenn es ihm tatsächlich wichtig sei, würde er sich auch operieren lassen. Bis dahin müsse er eben hier unten mit seinem Babykram (das hätten die tatsächlich gesagt) bleiben, mit dem sie nichts zu tun haben wollen. Sein Essen kriegt er zurechtgestellt, bzw. er kann sich nehmen, was immer er mag. Aber solange er sich wie ein Baby einnässen würde, habe er am Tisch des Bürgermeisters nichts zu suchen.
Nach dieser Ansage blieb mir erstmal die Spucke weg. ‘Was is’n hier los?’, fragte ich mich innerlich. Eh, so ‘ne Eltern zu haben is ja auch nich gerade komfortabel. So langsam begann ich zu verstehen, warum Siggi so „komisch“ ist.
Er ergänzte noch, dass er mit „Babysein“ nichts zu tun haben wolle. Auch wenn er nachvollziehen könne, dass es Leute gibt, denen wohl ein Stück kindliche Geborgenheit zu fehlen scheint. Er wäre froh, wenn er wie ein normaler Mensch auf’s Klo gehen könnte, um dort sein Geschäft zu erledigen.
Dann fragte er mich ganz locker, ob mir immernoch so sei, dass ich Windeln tragen möchte. Ich blieb bei meiner Meinung und sagte, dass es mir dank seiner Erklärungen bewusst sei, wahrscheinlich irgendwelche Defizite zu haben, aber der Wunsch, hin und wieder gewindelt zu sein, wäre immernoch da. „Okay“, meinte er, „dann mach Dir eine dran. Und lass sie dran. Versuch mal, wenigstens 24 Stunden nicht aufs Klo zu gehen. Egal wie sehr und warum es pressiert. Vielleicht redest du dann anders.“
Nun ja, was sollte ich machen? Ich bin in seine Toilette gegangen und hab mir aus dem Regal eine Windel genommen. Eine ganz dicke sogar. Ich wollte ihm beweisen, wie mutig ich sei. Zum Glück hatte ich ‘ne Jogginghose an. In meine Jeans hätte mein Hintern nicht mehr reingepasst. Sogar Siggi musste lachen. Es fiel wirklich sehr auf. Aber da ich wusste, dass Mam nichts dagegen hätte und er sowieso ständig eine anhat, machte es mir auch nichts weiter aus, so gesehen zu werden. Jetzt nicht mehr. Allerdings fragte ich ihn, ob man nicht die Kontrolle verlieren könne, wenn man freiwillig Tag und Nacht Windeln trägt und alles da reinmacht.
Er wisse es nicht, denn er trägt ja nicht freiwillig diese Dinger. Aber er könne sich gut vorstellen, dass man sich an Windeln gewöhnt und dann einfach lospinkelt, wann und wo auch immer man grad muss. Nach einem Tag ist die Wahrscheinlichkeit aber sehr gering, dass man es nicht mehr einhalten könnte. Viel zu tief sei die sogenannte „Sauberkeitserziehung“ eingeprägt worden. Das kann man nicht einfach in Nullkommanix löschen. Aber ich möge ihm nicht böse sein, doch er müsse mich losschicken, weil seine Eltern um diese Zeit meist zurückkommen würden. Und die haben ihm nicht erlaubt, hier „Leute“ ins Haus reinzulassen.
„Alles klar Siggi. Wenn dir so ist, kannste ja zu mir kommen. Ich glaub, meiner Mam wäre das ganz recht.“ Dann ging ich. Mein Kopf war voll mit dem Erlebten und die dicke Windel am Hintern hatte auch keinen beruhigenden Effekt.
An der Tür neben dem Garagentor stand breit grinsend Siggi, der mir nachschaute.
Auf jedem Fall habe ich mein Versprechen gehalten und blieb sogar bis zum Morgen des übernächsten Tages gewindelt. Mam fand es sogar gut so. Genug Probepäckchen waren ja da. Und – in der Schule hat niemand gemerkt, dass auch ich eine dieser Pants anhatte. Zumindest dachte ich mir das. Siggi wird es gemerkt als auch gewusst haben. Aber seit diesem Tag war er für mich der beste Kumpel der Welt.
Dass er irgendwie „anders“ war, hatte ich bereits berichtet. Aber dass er derart krass drauf war, das hat mich dann doch umgehauen. Kurz vor den Ferien war es, da meinte er, er habe ziemlich sturmfrei, d.h. seine Ellies wären auf Urlaubsreise und ich könne, wann immer es mir einfiele, zu ihm kommen. Nur eben mit Übernachten sähe es schlecht aus. Aber im Garten könnten wir, wenn es denn sein muss, eine Art Zelt aufbauen. ‘Klingt gut.’ dachte ich, und stimmte zu. Außerdem konnte ich bei dieser Gelegenheit mal wieder ganz offen zeigen, dass ich auch gern Windeln trage. Ihm war es recht und meiner Mam machte es nichts aus.
Kurz nachdem seine Eltern weggefahren waren, besuchte ich ihn mal wieder. Er saß – wie zu erwarten – vor seinem Computer. Er schrieb irgendwas. Als ich reinkam, die Türen waren ja offen, klickte er schnell den Text weg. ‘Also hat er doch Geheimnisse vor mir!’, schoss es mir durch den Kopf. Ein kurzer Anfall von Ärger kam, und verschwand gleich wieder. Meine Neugier blieb aber.
Zuerst fragte ich ihn mit einem Grinsen, ob ich meine vollgemachte Pants in seiner Windeltonne entsorgen könne. „Nur, wenn du dir eine frische Windel anziehst.“, antwortete er. Na klaro. In seiner Toilette machte ich mir also die volle Pants ab, säuberte mich mit den Feuchttüchern und legte mir eine dicke Windel an. Diesmal tat ich sogar noch eine dicke Einlage mit hinein. Die lagen letztens noch nicht da. Das wollte ich unbedingt mal ausprobieren. Die Jogginghose passte trotzdem noch einigermaßen locker drüber. Aber es war schon etwas anders am Hintern, bzw. zwischen den Beinen. Im Sitzen ging es besser. Aber beim Gehen drückte es dann doch etwas die Beine auseinander. Das blieb Siggi natürlich nicht verborgen. „Naa? Haste dir schon das Nachtpaket drangemacht, was?“ – „Nee, aber ich hab vorhin viel getrunken und möchte nich dauernd wechseln rennen. Der Müll, du verstehst schon.“ Er feixte bloß. Na klar hat er gemerkt, dass es nur eine faule Ausrede war. Ich genoss es irgendwie, wieder mit ihm zusammen zu sein.
Wir quatschten auch nicht non-stop, sondern ließen uns auch in Ruhe. Er fing an, nun doch wieder an dem Text zu schreiben, und ich durchstöberte seine Bücherregale nach etwas für mich Brauchbarem. Na klar wurde ich schnell fündig. Aber ich vermied es, auf seinen Bildschirm zu schauen. Es geht mich schließlich nichts an, was er da schreibt.
Nach einer Weile gingen wir nach draußen und bauten unter den Bäumen eine Art Zeltlager. Ein Zelt hatte er nicht. Sowas gehört sich nicht in höheren Kreisen, das machen nur einfache Leute, sagen seine Eltern. Also ich kann mir auch nicht vorstellen, wie Herr Bürgermeister mit verschlafenem Gesicht morgens aus dem Zelt kriecht. Aber wir hatten unseren Spaß. Wir lagen dann einfach nur so auf dem Rasen unter der Plane und haben gelesen und über alles gequatscht, was uns einfiel. Es war einfach schön. Na klar ging er ab und zu ins Haus um Getränke zu holen oder etwas zum Futtern. Aber auch, um sich „frisch zu machen“ wie er es nannte. Meine dicke Packung hielt und hielt. Ich war erstaunt, wieviel da reinging, ohne dass es auslief. Und ich habe wirklich oft gepieselt.
Solche dicke Pakete würde ich gern in der Nacht dran haben, gestand ich ihm dann nach einer Weile, als er fragte, ob ich nicht auch so langsam mal wechseln müsse. Erst guckte er skeptisch, dann sagte er nur „Frag doch deine Mutti“ (er sagte seltsamerweise nie Mama oder Papa), „ob sie dir nicht auch solche Einlagen beschafft. Aber denk dran, dass die aufquellen und dann läuft das Ding aus. Besser, du ziehst zur Sicherheit ‘was drüber.“ Hää? Was drüber ziehen? Als ich ihn verständnislos anschaute, sagte er nur: „Komm mal mit.“ Dann zeigte er mir seinen Kleiderschrank. Da begriff ich, was er meinte mit „Drüberziehen“. Er hielt mir eine Unterhose aus Plastikfolie hin. Dann griff er nochmal in den Schrank und hatte ein T-Shirt in der Hand. „Nee, T-Shirts hab ich selber“, sagte ich und nahm nur das PVC-Höschen und zog es mir direkt vor ihm an.
Das fühlte sich gar nicht mal so schlecht an. Siggi fing wieder an zu feixen und entfaltete das T-Shirt. Es war länger und hatte die Unterhose gleich dran. Sowas hab ich schon bei den Babys gesehen. Aber dass es das auch in Groß gibt? „Da hängt die Windel nicht so runter, wenn sie voller wird. Außerdem kann niemand in den Hosenbund gucken oder es blitzt ‘was raus.“ Das leuchtete mir sofort ein und ich nahm auch dieses Teil, zog mein T-Shirt aus und streifte mir das Ding über. Es passte perfekt. Aber ich kam mir jetzt echt ein bisschen wie ein Baby vor. Windelpaket, PVC-Schlüpfer und so’n Body, wie er das Teil nannte. Ich versuchte witzig zu sein und sagte: „Da fehlt bloß noch der Schnuller, dann ist das Baby fertig für’s Bettchen.“
Diesmal konnte er sich ein Lachen nicht verkneifen. Wahrscheinlich sah ich wirklich aus wie ein Riesenbaby. Aber mit Jogginghose war alles wieder halbwegs normal. Wir alberten noch eine ganze Weile herum, dann rief ich meine Mam an und sagte ihr, dass ich heute Nacht mal bei Siggi bleiben wolle. Sie hatte nichts dagegen, aber ermahnte mich, dass ich mich benehmen sollte und nicht vergessen, eine frische Pants zur Nacht anzuziehen. Nur zur Sicherheit, wie sie es nannte. Na wenn sie wüsste, was ich grad für ein dickes Paket dran habe, wäre ihre Sorge völlig unbegründet. Wir mussten beide lachen.
Es war einfach schön, mit Siggi zusammen zu sein. Irgendwie hatte ich das Gefühl, wir würden uns schon ewig kennen. Dabei war es grad mal ein paar Tage her, dass wir uns näher kamen.
Wie immer trug er sein langärmeliges T-Shirt. Auch viele seiner Bodys hatten lange Ärmel. Sehr seltsam. Als wir uns für die Nacht nochmal „frisch“ machten, ja sogar machen mussten, weil wir soviel Zeugs getrunken hatten, ließ er mich nicht mit in die Toilette. Vielleicht war es ihm dann doch zu peinlich, wenn ihn jemand ganz nackig sieht. Mir ist das halbwegs egal.
Erst neulich hat mir Mam gesagt, warum er solche Klamotten trägt. Damit niemand sieht, was er sich angetan hat. Das hab ich bis heute nicht verstanden. Wie kann man auf den bescheuerten Gedanken kommen, sich selber weh zu tun, wenn da etwas nicht zu ändern ist?
Doch zurück. Der Schulpsychologe sagte uns ja, wir sollten alles einfach aufschreiben, so wie wir uns eben daran erinnern. Es gäbe keine Zensuren dafür. Auch würde alles streng vertraulich behandelt werden. Nicht einmal unseren Namen bräuchten wir drauf schreiben, wenn wir es nicht möchten. Auch sehr merkwürdig. Aber mein Geschreibe hier kriegt der trotzdem nicht.
Also ich mache mal einen kleinen Zeitsprung zu dem Tag, der alles ändern würde.
Auch in meinem Leben.
Es war Sonnabend. Den Tag kann ich, nein, den werde ich nie vergessen. Ich sehe es noch ganz genau vor mir, wie ich Am Lindenweg 22 ankam. Beide Tore waren diesmal zu. Ein mulmiges Gefühl beschlich mich. Siggi müsste doch zuhause sein. Die kleine Pforte war nicht verschlossen, also trat ich ein. Seine Eltern kämen erst am Sonntag wieder, hat er mir gesagt. Bis dahin könne ich kommen und gehen, wie es mir beliebt. Wenn es sein muss, auch um Mitternacht.
Also ich ging zur Garagentür. Auch die war nicht verschlossen. ‘Sicherlich hängt der wieder vor dem Computer’, dachte ich, und ging hinein. Alles dunkel. Es roch ganz frisch nach Farbe. Niemand da. Als ich seine Zimmertüre aufmachte, blieb mir die Luft weg.
Das Zimmer war leer.
Vollkommen leer. Nichts war darin. Gar nichts, außer dem Geruch nach frischer Farbe.
Ich bekam Panik und ging schnell wieder hinaus. Dann rief ich Mam an und sagte, dass hier etwas nicht stimmen würde. Sie klang extrem besorgt, als sie mir sagte, ich solle jeden Platz aufsuchen, wo wir jemals gern gewesen wären, und ihn suchen. Aber bevor ich loslaufe, soll ich mal nachsehen, ob ich irgendwo seinen Computer finde. Manchmal würde man etwas finden, was auf den Aufenthaltsort hindeuten könnte. Das hab ich auch gemacht.
Und ganz offen sichtbar auf der Werkbank hab ich Siggis PC auch gefunden. Und – voilá – ich hab das Teil starten können. Zum Glück hat sich Siggi nie einen Kopf gemacht in Sachen Datenschutz und so. Also war auch kein Passwort erforderlich. Office gestartet und die letzten Dateien anzeigen lassen. Treffer! Da war aber nur eine einzige. Und mit einem Mal wurde mir klar, was Siggi letztens für einen Text verfasst hat. Mir wurde auf einmal kalt. Sehr kalt.
Ich rief Mam an und sagte, dass ich ihr schicke, was Siggi da geschrieben hat. Ich könne es nicht alles lesen, es sei zu schrecklich. Mam wollte sofort los und mich hier abholen, aber ich sagte, ich würde losdüsen und Siggi suchen. Vielleicht könnte ich ihn doch irgendwo finden. Den Text schickte ich als Anhang per Mail an Mam. Soll sie damit machen, was sie für richtig hält. Ich hab 100% Vertrauen zu ihr. Dann lief ich auf die Straße.
Das Haus, das ganze Grundstück Am Lindenweg 22 war mir schlagartig unheimlich geworden. Hierher wollte ich nie wieder. Nicht freiwillig. Nicht für alles Geld der Welt.
Erstmal überlegen. Was hat Mam gesagt? Wo hat sich Siggi gern mal aufgehalten? Im Ort nicht. Zuviele Leute, zuviele Beobachter, zu riskant. Im Wald? Schon eher. Aber bis dahin ist es ein ganzes Stück. Da war doch noch etwas. Der Steinbruch. Genau! Das muss es sein! Dort hat er mich mal mit hingenommen. Es war streng verboten, sich da aufzuhalten. Absturzgefahr usw. Hat ihn alles nicht gejuckt. Ich kann ihn verstehen. Es war herrlich dort. Ganz oben an der Kante zu sitzen, unter sich nichts als der freie Fall, wie er es nannte.
Auf einmal bekam ich Angst. Schreckliche Angst. Was, wenn er da runterspringt? Hat der Arsch auch mal an mich gedacht? Seinen Freund? Mir schossen die Tränen in die Augen, aber ich rannte los. Und zwar sehr schnell. Dabei hatte ich völlig vergessen, dass ich noch die Pants anhatte, die ich bei ihm wechseln wollte. Aber es stand auch keine Windeltonne mehr da. Alles war weg, sogar „dieses Scheißding“, wie es Herr Bürgermeister zu nennen pflegte.
Nach knapp 20 Minuten war ich völlig aus der Puste, aber am Steinbruch. Nichts zu sehen. Kein Siggi. Rufen wollte ich nicht, da ich mal irgendwo gelesen habe, dass das einen antreiben kann, zu springen. Keine Ahnung, wie ich da drauf kam, aber ich ahnte, dass sich Siggi ‘was antun wollte. Und bei seinem Hang zur Perfektion würde es auch klappen.
Langsam ging ich näher an die Abbruchkante des Steinbruches. Panische Angst befiel mich. Siggi war hier oben nicht zu entdecken, also war er wohl schon gesprungen? Ich kämpfte mit den Tränen, als ich meinen Kopf über die Kante schob, um nachzusehen. Aber da war nichts.
‘Mensch Mike, überleg doch mal. Denk nach, wie du noch nie nachgedacht hast!’ Dann wusste ich, was er vorhatte. Er schrieb ja, dass ihn niemand finden würde. Und das hatte er auch bei einem unserer Ausflüge hierher erwähnt: „Wenn jemand verschwinden will, sodass ihn niemand finden soll, wäre hier im Stollen unter dem Steinbruch der ideale Ort.“
Ich sprang auf und rannte zur Talsohle. Ein paar Mal muss ich gestolpert sein und hatte mir auch irgendwo das Bein aufgeschrammt. Es war mir alles egal. Ich wollte nur Siggi finden. Am Stolleneingang hab ich ihn dann gehört. Er musste sich ja sehr sicher sein. Er hatte ja auch Recht damit. Wer würde ihn hier suchen? „Eintritt verboten“-Schilder überall, Stacheldraht. Fehlt bloß noch ein Wachturm und ein paar Uniformierte mit Kalashnikovs.
Ich ging in den Stollen. Wieder bekam ich Angst. Er hat gesagt, man müsse höllisch aufpassen wegen dem Wasser. Nur solange es klar sei, würde man sehen können, wo ein Schacht nach unten aufgeht. Wenn man da reinstürzt, kommt man nicht mehr heraus. Niemand würde einen je finden.
Mir wurde klar, was er wirklich wollte: für immer verschwinden. Aber hier vorn, nahe dem Eingang stand noch kein Wasser. Das kommt erst nach etwa 200 Metern. Und da ich ihn noch gehen hörte, muss er gar nicht weit weg sein. Also beschleunigte ich etwas.
Dann war auf einmal Ruhe. Ich erschrak. Hat er es getan? Hat er mich gesehen und gibt sein Vorhaben auf?
Mein Handy gab noch gut Licht. Also ging ich weiter.
Dann habe ich ihn mehr liegen als sitzen gesehen.
Schweißbedeckt.
In der Hand eine Art Messerchen, den linken Arm entblößt.
Ich musste mich übergeben. Ich konnte nicht anders.
Ich schrie aus Leibeskräften, schlug ihm ins Gesicht, zerrte an ihm. Er reagierte nicht.
Ich fühlte seinen Puls am Hals. Also lebte er noch. Hoffnung kam auf.
Seine Stirnlampe nahm ich ihm ab und setze sie mir auf. Dann fasste ich ihn unter die Arme und zerrte ihn Schritt für Schritt zum Ausgang des Stollens. Hier drin hatte das Handy kein Signal. Da war auch bloß noch ein Balken bei der Batterieanzeige. Also aus das Ding und erstmal raus hier.
Siggi gab keinen Mucks von sich. Er war völlig weggetreten.
Ich weiß nicht genau, wie lange ich gebraucht habe, bis ich mit ihm draußen war. Aber ich schaltete sofort mein Handy ein, rief Mam an und sagte ihr, dass ich ihn gefunden hätte. Sie möge bitte einen Krankenwagen rufen, mein Akku macht gleich schlapp. Sie wollte noch etwas fragen, aber da brach auch schon das Signal ab, bzw. das Handy (der Akku) gab den Geist auf.
Jetzt hatte ich Zeit, mir Siggi genauer anzugucken. Ohne dass er sich verstecken konnte. Seinen linken Unterarm hab ich ja schon gesehen. Neugierig entblößte ich seinen rechten. Der sah nicht besser aus. Alles voller Narben.
Aber nicht solche, wie man sie vom gewöhnlichen „Ritzen“ bekommt.
Bei ihm verliefen die Narben längs in der Mitte des Unterarmes entlang.
Und die waren nicht dünn.
Mich schauerte.
Seine Hose hing auf halb acht. Meine aber auch. Ich zog sie etwas zurecht, nachdem ich ihn in die stabile Seitenlage gelegt hatte, ganz wie beim Erste-Hilfe-Kurs gelernt. Sein Puls ging schwach, aber er war tastbar. Atmung war auch da, also blieb mir nichts anderes übrig, als zu warten. Wir beide sahen aus wie Dreckferkel. Ich durchsuchte noch schnell seine Taschen, um eventuell belastende Beweise vernichten zu können. Das kleine Messerchen hatte ich im Stollen vergessen. Das wird eh niemand suchen. Dann fand ich die leeren Pillen-Packungen. Sofort steckte ich ihm meinen Finger in den Hals und brachte ihn zum Erbrechen, wobei ich mich gleich selber mit übergeben musste.
Erstaunlich viele dieser Dinger brachte er raus. Hab alles gleich verscharrt. Samt der Verpackungen. Immer wieder rüttelte ich an ihm und sprach ihn an. Dann hörte ich Sirenengeheul näher kommen. Siggi bewegte sich ganz leicht. Mich durchzuckte Freude. Mal sehen, ob ich das, was er vorhatte zu tun, irgendwie vertuschen kann. Ist mir scheißegal, was andere über‘s Lügen sagen. Für Siggi mach ich das.
Vom Stolleneingang war es nicht weit bis zum Weg, auf dem der Rettungswagen hielt. Der Sanitäter kam herangerannt und stürzte sich gleich auf Siggi. Der Notarzt kam auch und beide unterhielten sich in Fachchinesisch. „Keine Fraktur, keine offene Wunden, Verdacht es-ha-te, Kreislaufkollaps, P kommt, Atmung kommt, Verdacht Inkontinenz“ konnte ich aufschnappen. Dann sahen sie mich an und fragten, was los gewesen sei.
Ich log natürlich, was das Zeug hielt. Und ich bin mir sicher, die beiden haben es gemerkt. Sie nickten nur ab und an und gaben sich (scheinbar) zufrieden. „Wir waren doch nur auf Erkundung. Sie wissen ja, wie Jungs sind. No Risk no fun.“ wiederholte ich mehrmals. „Nein, wir sind nicht gestürzt. Ihm ist auf einmal schlecht geworden. Das war’s. Weiß nich, warum.“
Dann traf meine Mam ein. Als sie Siggi auf der Trage liegen sah, heulte sie los. Da konnte auch ich nicht mehr an mich halten. Ich weiß nicht, wer von uns den Sturzbachtränentest gewann.
Ins Krankenhaus brauchten wir nicht mitfahren. Wozu auch? Wir waren keine Angehörigen. Und es war auch alles unter Kontrolle. So sagte es jedenfalls der Notarzt. Doch als er mich so ansah, fügte er hinzu: „Na ja – fast alles. Der junge Mann hier bräuchte vielleicht auch eine frische Unterhose.“ Da wurde mir erst bewusst, dass ich hier vor allen Leuten mit nasser Hose stand. Ich hatte es gar nicht mehr auf dem Schirm. So hatte ich mir ein Outing nicht vorgestellt. Mam fing langsam wieder an zu lächeln.
Der Arzt schaute sie an und fragte, wer sie denn bittschön sei. „Ich bin die Mutter des Jungen.“, sagte sie und zeigte auf mich. Dann zeigte sie auf Siggi und fügte hinzu: „und den Jungen kenne ich sehr gut.
Das ist Siggi, der beste Freund meines Sohnes.
Er gehört sozusagen zur Familie.“
Alles weitere ist schnell berichtet. Siggi wurde ins Krankenhaus gebracht. Er bekam ein Einzelzimmer. Es ginge ihm ziemlich schlecht. Man habe noch nicht herausfinden können, was seinen Kreislaufzusammenbruch verursacht hat. Außerdem bestünde dringender Verdacht auf Misshandlung. Niemand dürfe ihn, ohne dass ein Arzt dabei wäre, besuchen. Er wolle nur mich sehen, sagte man mir, als ich mal auf Station anrief.
Na klar habe ich ihn besucht. Er sah total sch... aus. Das war das Erste, was ich ihm auch sagte. Ja, sagen musste. Der Arzt wollte mich gleich vor die Tür setzen. Aber ich wehrte mich und rief Siggi zu, dass er sich verhalten habe, wie ein Kameradenschwein. Sowas tut man nicht. Er habe mir sehr weh getan. Dann erst ging ich vor die Tür. Na klar hat mich der Arzt draußen gefragt, was das zu bedeuten habe. Aber ich habe nichts gesagt. Ich bin doch kein Verräter.
Eine Woche später ging es Siggi gut genug, dass man mir und Mam erlaubte, ihn gemeinsam zu besuchen. Er sah bedeutend besser aus, zeigte aber ein zerknirschtes Gesicht. Mam interessierte das nicht. Völlig locker ging sie an sein Bett und nahm ihn einfach in den Arm. Ich war total baff. Siggi fing an zu heulen. Es sah aus, als würde aus dem einen Auge der Niagara- und aus dem anderen der Viktoria-Fall stürzen. Tja, was konnte ich anderes machen, als auch loszuheulen? Diesmal war kein Arzt dabei. Ich weiß nicht, wie das Mam hingekriegt hat, aber der blieb draußen. Nur zur Sicherheit, wie er sagte. Das fand ich irgendwie verdächtig.
Jedenfalls versiegten so langsam die Tränenströme und wir fingen an darüber zu reden, was denn nun werden soll. Siggi sagte, dass er nie, aber auch nie, nie wieder auch nur in die Nähe vom Lindenweg sein wolle. Es sei ihm alles egal. Klapsmühle, Kinderheim, Jugendknast alles. Hauptsache nicht wieder ins Haus der Leute, die... Ihm versagte die Stimme. Und er fing wieder an zu heulen.
Mam nahm ihn wieder in die Arme bis sein Schluchzen langsam aufhörte. Sie sagte, es würde noch eine ganze Weile dauern, bis er die letzten vier Jahre überwunden habe. Und so lange könne er, wenn er wolle, und mit einem Seitenblick auf mich werfend, fügte sie hinzu, „wenn der dort recht artig sei“, bei ihr im Haus mit wohnen. Das wäre auch für sie einfacher, so von wegen gewisser Hilfsmittel, und wieder kam ein Seitenblick auf mich, und deren Entsorgung. Dann lächelte sie verschmitzt und fragte ihn, ob er denn hier auf Station die richtigen bekommen würde. Etwas errötend antwortete er, dass es nur so billige Dinger wären, die nicht mal zwei Stunden hielten. Das wäre ja weniger als eine der Pants, die sie ihm verschafft hat. Aber er fand es ganz klasse, dass sie ihm dieses Angebot machte. Nur ginge das eben nicht, denn seine Eltern hätten wohl irgendwas am Kochen, was ihn beträfe. Zum Glück seien sie noch nicht ein einziges Mal zu Besuch dagewesen. Mam sagte, dass sie das eingefädelt habe. Da sie sich sicher sei, er würde seine Eltern im Moment zumindest nicht gern sehen. Außerdem solle er sich mal keinen Kopf darüber zerbrechen, was die Erwachsenen so treiben. Hauptsache, niemand fängt an auszuplaudern, was tatsächlich im Steinbruch passiert sei.
„Und übrigens“, fuhr sie fort, „den Computer habe ich weggenommen.“ Siggis Augen fingen wieder an zu schwimmen. „Keine Sorge, Siggi, du bekommst ihn wieder. Aber ohne das gewisse Etwas, wenn du verstehst, was ich meine.“ Auch mir fielen ganze Steinbrüche vom Herzen, als Mam das sagte.
Nach diesem Kraftakt an Besucherbelastung, verließen wir ihn und hofften, dass die Ärzte nichts besonderes mehr an ihm auszusetzen finden, sodass er bald entlassen werden konnte. Zumindest erstmal raus aus dem Krankenhaus.
Mam erzählte mir dann am nächsten Tag, dass es ganz schön nervaufreibend sei, gegen den Bürgermeister etwas zu unternehmen. Niemand wollte ihr so recht glauben, was da im Haus Am Lindenweg 22 los war. Keiner wollte sich ansehen, wo und wie Siggi untergebracht war. Zum Glück hatte Mam auf dem Weg zum Steinbruch allerlei Fotos von dort gemacht.
Die Verhandlung über das Sorgerecht wurde auf Antrag meiner Mam und deren Rechtsanwältin in eine andere Stadt verlegt. Die Richterin dort hat vertraulich Einsicht genommen in die Sache (sicherlich war der Brief damit gemeint) und dann war alles recht schnell entschieden.
Siggi bekommt eine mindestens vierwöchige Therapie. Wenn er danach für schulfähig gehalten wird, kann er, wenn er möchte, wieder an seine gewohnte Schule gehen. In sein Elternhaus braucht er nicht mehr. Seine Eltern haben sogar ein Verbot auferlegt bekommen, ihn in irgendeiner Art zu kontaktieren. Herr Bürgermeister wäre außer sich gewesen. Er hätte getobt und herumgeschrien, bis er aus dem Saal verwiesen wurde. Seine Karriere war mit einem Schlag, d.h. nach diesem Prozess zuende.
Meine Mam war sehr clever und hat es eingefädelt, dass ich gleich mit zur Therapie fahren kann. Die Mehrkosten will sie übernehmen. Schließlich habe Siggi ja etliches an Freundeskontakt nachzuholen. Vielleicht fand sie mein häufiges „Probieren“ nun doch etwas auffällig und erhoffte sich eine Art therapeutischen Nutzen von meinem Aufenthalt im Kurheim. Also ehrlich gesagt, ich freue mich gigantisch auf die Reise mit Siggi. Auch wenn es „nur“ zu einer Kur ist. Er und ich in einem Zimmer.
Und natürlich:
Windeln.
Das ist einfach nur HAMMERMÄSSIG gut erzählt.
AntwortenLöschenAll die Gefühlsregungen, Empfindungen und Gedanken....
Tatsächlich handelt es sich hier um die beste Geschichte seit Bestehen dieser Seite!!!
Danke für diese großartige Story aus zweierlei Sicht!