"Ben, es wird Zeit, dass du erwachsen wirst!", sagte meine Mutter. Ihr
Ton klang genervt und leicht vorwurfsvoll. "Du kannst doch in deinem
Alter nicht ernsthaft mit Windeln leben wollen. Es muss aufhören!"
"Mama!",
konnte ich nur sagen. Sie schaute nicht wirklich umher, war damit
beschäftigt, in der mitgebrachten Reisetasche zu kramen. Sie suchte eine
Hose heraus, die ihrer Meinung nach nicht zu offensichtlich zeigte,
dass ich eine Windel anhatte. Ihr schien es noch peinlicher zu sein, als
mir und trotzdem sprach sie in normalem Ton darüber, während mein
Bettnachbar in seinem Bett lag und verstohlen in ein Buch starrte. Es
fehlte nur noch, dass er das Buch verkehrt herum hielt, um seine
Anstrengung beim Nicht-Zuhören offensichtlich zu machen.
"Zieh das
drüber!", sagte meine Mutter und hielt mir eine Bermuda-Short hin. Weit
und luftig für den Sommer und wohl auch genau richtig, um die Windel
ihres Sohnes zu verbergen.
Ich gehorchte und zog die Hose unter der
Decke an. Ich wollte nicht allen meine neue Unterwäsche präsentieren,
vor allem dem fremden Mann im Zimmer. Dann schlug ich die Bettdecke
zurück, stand auf und entledigte mich des Bademantels.
"Häng ihn bitte richtig auf. Warum nur muss ich dir das immer wieder sagen?", mahnte meine Mutter.
"Jaaahhhh",
antwortete ich mit genervter Stimme und nahm den Bademantel, öffnete
die Schranktür und hängte ihn auf einen Kleiderbügel. Das waren solche,
wo man nicht klauen konnte. Die Halterung war im Schrank integriert und
der Bügel selbst wurde nur an einer kleinen Verdickung am oberen Ende
eingehängt. So zumindest war sichergestellt, dass genug Kleiderbügel in
jedem Schrank waren.
'Wer nimmt sich eigentlich Kleiderbügel aus dem
Krankenhaus mit?', schoss mir durch den Kopf. Irgendwie tragisch, wenn
man zum Abschluss seiner Genesung noch ein Erinnerungsstück mitnehmen
muss und der nächste Patient seine Klamotten nicht aufhängen kann.
Mit
etwas Fummelei hatte ich meinen Bademantel endlich im Kleiderschrank
verstaut. Ich überlegte immer noch, was ich meiner Mutter entgegnen
sollte. Dabei hatte alles so harmlos angefangen. Da war der Zivi, der in
den Oberschrank die Windeln packte, da war meine Neugier, sie
anzuprobieren und da war die Gelegenheit. Und nun stand ich in einer
Bermuda-Short vor meinem Schrank, meine Mutter wollte, dass ich
erwachsen werde und praktisch jeder wusste, dass ich eine Windel
anhatte.
Das gute Gefühl vom Anfang bekam einen echt bitteren Beigeschmack. Einen sehr bitteren Beigeschmack.
"Ich
bin erst 12 und ich bitte dich, mir noch etwas Kindheit zu lassen.",
sagte ich, mit Tränen in den Augen. Ich hatte mich im Satz umgedreht und
schaute in Richtung meiner Mutter, die auf dem Tisch meine frisch
gewaschenen Klamotten in kleiderschrankgerechten Stapeln sortiert hatte.
Erstaunt und mit einem fürsorglichen Mutterblick schaute sie mich an
und hielt einen Moment inne.
"So habe ich das doch gar nicht gemeint,
Ben.", sagte sie mit einem beruhigenden Tonfall, der ganz anders klang,
als die gestresste, leicht vorwurfsvolle Stimme vor wenigen
Augenblicken. "Ich mache mir nur Gedanken, wie dein Umfeld reagiert. Du
wirst älter und damit wird es immer unwahrscheinlicher, dass Kinder in
deinem Alter Windeln tragen.".
Das hat gesessen. Eigentlich hatte
meine Mutter recht. Zwar gab es Windeln für meine Altersklasse und damit
auch sicher Kinder, die sie benutzten, aber getroffen hatte ich ein
gleichaltriges Kind mit Windeln noch nicht.
"Lass das Problem bitte
jetzt nicht zum Problem werden.", sagte ich und irgendwie wirkte das
ziemlich erwachsen, fand ich jedenfalls. Meine Mutter packte die Wäsche
in den Schrank, verabschiedete sich mit einem Kuss von mir und sagte:
"Ich muss los. Meine Schicht fängt bald an und ich wollte dir nur
schnell die frischen Sachen bringen. Sei brav und ärgere die Schwestern
nicht.".
Fehlte bloß noch, dass sie 'Versprichst du mir das?" sagte,
aber diesen Nachsatz hörte ich zum Glück in letzter Zeit immer seltener.
Sie nahm ihre Tasche und ging, aber nicht, ohne mir an der Tür noch
einmal zuzuwinken. Eigentlich ist meine Mutter toll, aber in solchen
Momenten ist es dann auch etwas peinlich. Ich rannte zum Fenster und
schaute runter zur Straße. Sicherlich winkt sie noch einmal, bevor sie
außer Sichtweite ist.
Es dauerte nicht lange und sie tauchte unten am
Ausgang auf. Ehe ich ihren mütterlichen Blick sehen konnte, öffnete
sich hinter mir die Tür. Ein neuer Patient wurde hereingeschoben und als
das Bett um die Kurve kam, gab es den Blick auf einen schwarzhaarigen
Jungen etwa in meinem Alter frei. Er schien zu schlafen. "Ben, hier mal
jemand in deinem Alter. Das ist Thomas, aber bitte lass ihn in Ruhe, er
ist noch bewusstlos.".
Die Frage nach dem Grund für seine
Bewusstlosigkeit lag mir auf der Zunge, als die Schwester erneut
ansetzte: "Wenn du eine neue Spezialunterhose brauchst, sag Bescheid.".
Dabei schaute sie bedeutungsvoll in meine Richtung und meinte, ich
wüsste, wovon sie sprach und zwar nur ich.
Scheinbar hatte das
Personal auch keine einheitlichen Regeln, mit der Intimsphäre ihrer
Patienten umzugehen. Da fiel mir doch glatt die Kondomwerbung mit der
Kassiererin ein, die lauthals nach ihrer Kollegin und den Kondomen
plärrte. Und nun gab's die Info so verschlüsselt, dass ich selbst für
einen Moment nicht wusste, was sie damit meinte. Eine Windel bleibt eine
Windel, egal, wie man sie nennt. Viel Zellulose und Plastik für ein
Leben ohne Klo.
Die Schwestern hatten das Zimmer schon wieder
verlassen und ich griff instinktiv an mein Hinterteil, um zu prüfen, ob
noch alles trocken war. Und es war alles trocken, kein Grund für die
nächste "Mach dich mal frei"-Runde. FKK hatte ich schon als Kleinkind
gehasst und selbst meine Mutter hatte seit Jahren striktes Zimmerverbot,
wenn ich mich umzog. Im Krankenhaus hört man dann zwar so Sätze wie:
"Ach, ich bin doch Krankenschwester, ich habe das doch alles schon
gesehen.", aber wirklich besser fühle ich mich nicht dabei. Bei allem
Interesse für die Windeln, meine Mutter hatte Recht, ich musste
wenigstens hier erwachsen werden, immerhin hatte ich nun auch noch einen
gleichaltrigen Leidensgenossen auf meinem Zimmer.
"Shit!", klang es
in dem Moment aus seiner Richtung. Der schwarze Lockenkopf hatte sich
aufgerichtet und schaute unter seine Bettdecke. "Shit! Shit! Shit!",
sagte er weiter und als er meinen Blick bemerkte, ließ er ganz schnell
die Bettdecke wieder fallen.
"Sorry! Hab dich gar nicht bemerkt.", sagte er und legte sich wieder hin. Er sah gar nicht glücklich aus.
"Macht nix, ich wollte grade am Fenster schauen...". Den Satz beendete ich nicht.
"Kannst du mal ne Schwester holen?", fragte mich Thomas. "Ach übrigens, ich heiße Thomas."
"Ben.",
sagte ich trocken und ging auf die Suche nach einer Schwester. Claudia,
die nette, die im Zimmer so dezent nach meiner "Spezialunterwäsche"
gefragt hatte, saß im Schwesternzimmer.
"Ähm, der Neue auf meinem Zimmer ist wach und braucht eine Schwester.", sagte ich.
"OK, ich bin gleich da. Er soll bitte so lange liegen bleiben.", entgegnete sie mir.
Zurück
im Zimmer sah ich eben noch die Decke in ihre eigentliche Position
gleiten. "Kommt gleich jemand, sollst liegen bleiben.", sagte ich.
"Darauf
kannst du Gift nehmen.", sagte der Junge, "So stehe ich garantiert
nicht auf.". Sein Kopf nickte Richtung Bettdecke und ich ahnte den Grund
für seinen Kummer. Krankenhäuser haben scheinbar einen Hang dazu, Leute
nackig zu machen. Und wenn man dabei bewusstlos ist, naja, dann kann
das schon mal unangenehm sein.
Die Tür öffnete sich, Claudia kam rein und Thomas sagte ohne Umschweife: "Einmal Anziehen, bitte!".
Das
Bitte klang sehr eindringlich und Claudia schien diese Bitte auch
sofort zu verstehen, löste die Bremsen vom Bett und schob den Neuen
wieder raus. Ich war offensichtlich nicht der Einzige, der sich genierte
und Claudia scheint ein Gespür dafür zu haben, wie viel Privatsphäre
man bzw. Junge braucht.
***
PS: Jesus lebt!
Eingesendet von User Ben per E-Mail. Vielen lieben Dank!
Freue mich schon wieder auf die Fortsetzung ;)
AntwortenLöschen