Freitag, 29. März 2019

Tamara - Teil 1

Tamara - Teil 1 – Vorgeschichte: Das Malheur

Die letzten Sommerferien. Danach würde mein Abiturjahr beginnen und was danach kommen sollte, war für mich noch so weit weg, dass ich mir darüber keine Gedanken machen wollte.



Aber so richtig freuen konnte ich mich noch nicht auf diese Ferien. Meine Eltern, die sowieso nie viel Zeit für mich hatten, erhielten ein interessantes berufliches Angebot aus Michigan, das für ein halbes Jahr angesetzt war. 

So kurz vor dem Abi kam ein längerer Aufenthalt in den Staaten für mich aber nicht in Frage, und so blieb mir nichts anderes übrig, als vorübergehend zu Onkel Frank und Tante Rita zu ziehen. Sie wohnten am anderen Ende der Stadt in einem hübschen Einfamilienhaus mit Garten, hatten keine Kinder und ein gutes Einkommen. Ich mochte die beiden eigentlich ganz gern, auch wenn wir nie viel Kontakt zu ihnen hatten. Frank ist der Bruder meines Vaters und ich glaube, das Hauptproblem war immer, dass meine Mutter nie so richtig mit Tante Rita klar kam. 

Mir war das gleich. Immerhin konnte ich mich weiter mit meinen Freunden treffen und in meine alte Schule gehen und mit siebzehn Jahren konnten mir Frank und Rita ja auch nicht allzu viele Vorschriften machen.
Tatsächlich fühlte ich mich auch schnell zu Hause. Ich bekam ein schönes, gemütliches Gästezimmer unter dem Dach und Onkel und Tante waren auch sehr nett zu mir. Tante Rita arbeitete bei einer Kosmetikfirma und Onkel Frank als Architekt, aber beide konnten einen Großteil ihres Jobs von Zuhause aus erledigen, so dass ich selten allein war. Das machte mir eigentlich auch nichts aus, doch ich musste mich erst an ein „Familienleben“ gewöhnen. Gemeinsame Mahlzeiten oder Fernsehabende kannte ich im Grunde gar nicht, aber es gefiel mir bald, wie selbstverständlich man sich um mich kümmerte. Ich hatte gar nicht das Bedürfnis, ständig mit dem Bus oder dem Fahrrad in die Stadt zu fahren und mich mit meinen Freunden zu treffen, zumal die Ferien sowieso sehr verregnet begannen und ich mich lieber aufs Sofa kuschelte, um meine Lieblingsserien anzusehen.

Nach gut einer Woche, es war an einem Donnerstag Abend, war ich dann aber doch mit zwei Freundinnen zu einem Kinobesuch verabredet. Es wurde irgendeine Schnulze gezeigt und dazu gab es für jeden weiblichen Kinobesucher eine Rose und ein Glas Prosecco und das alles für nur fünf Euro – Ladies Night nannten sie das. Ich hatte eigentlich keine große Lust, aber Michelle und Daniela überredeten mich mit dem Argument, dass ich doch nicht die ganzen Ferien auf der Couch liegen könne, wenn doch nach dem Abi „der Ernst des Lebens“ auf mich warten würde. Also schön, dann eben Ladies Night.
Am Kino angekommen wurde mir auch schnell klar, warum diese Aktion veranstaltet wurde. Der Saal war nicht mal zu einem Drittel gefüllt und vermutlich stand das Kino kurz vor der Pleite und versuchte mit allen Mitteln, Kunden zu gewinnen.

Der rosa Prosecco war für mich jedoch eher abschreckend, Alkohol war noch nie mein Fall gewesen. Ich beeilte mich, mein Glas zu leeren, um es schnell hinter mich zu bringen, aber da hatte ich nicht mit den Kinobetreibern gerechnet. Die waren nämlich ein bisschen zu optimistisch gewesen und hatten viel mehr gefüllte Gläser bereitgestellt als Besucher kamen. Nach dem Film drängten sie uns noch zwei weitere Proseccos auf und während Daniela und Michelle vor Begeisterung kicherten, nippte ich nur aus Höflichkeit zögernd am Glas. Die Wirkung ließ auch nicht lange auf mich warten und der ungewohnte Alkohol stieg mir schnell in den Kopf. Schließlich stimmte ich in das alberne Gekicher ein und war sogar benebelt genug, einen Erdbeerlimes zu probieren, den Daniela mir an der Theke der Kinobar aufschwatzte. Als wir uns vor dem Kino voneinander verabschiedeten, gab die frische Luft dem Alkohol noch einen zusätzlichen Schub und so machte ich mich ausgesprochen beschwingt auf den Heimweg und wunderte mich immer noch verschwommen darüber, warum mir der Prosecco plötzlich so gut geschmeckt hatte, während ich Bier und Wein schon immer recht eklig gefunden hatte.

An der Haustür hatte ich Schwierigkeiten, den Schlüssel ins Schlüsselloch zu stecken. Gerade, als ich es fast geschafft hatte, wurde die Tür aber von innen geöffnet und ein verwunderter Onkel Frank stand vor mir.
„Warum machst du dir kein Licht?“
„Oh... ganz vergessen...“ nuschelte ich undeutlich und fühlte, wie ich errötete. Onkel Frank zog die Brauen hoch.
„Was ist denn mit dir los?“
„Nüx...“
„Hast du was getrunken?“
„Nur...ein ...Prosecco....Der war u..umsonst.“  Ich unterdrückte ein Hicksen.
„So so. Einer, ja? Du scheinst mir nen schönen Schwips zu haben, wie mir scheint...“
„N....nein...“
„Na? Jetzt komm erst mal rein. Du bist wohl immer für eine Überraschung gut.
„Mhmmm...“
Ich traute mich gar nicht, den Mund aufzumachen und beschloss, mich möglichst schnell in mein Zimmer zu begeben, doch der Gedanke an die steile Treppe nach oben erfüllte mich mit Unbehagen.
„Vielleicht solltest du einen Kaffee trinken.“
Ich nickte erleichtert. Zumindest war Onkel Frank nicht sauer und Tante Rita war, soweit ich mich erinnerte, sowieso nicht Zuhause, sondern auf einem Tupperabend bei einer Freundin. Im direkten Vergleich schätzte ich sie strenger als meinen Onkel ein. Ich schwankte ein wenig unsicher in die Küche, wo immer eine Thermoskanne mit Kaffee bereitstand und war froh, dass es mir gelang, eine Tasse voll einzuschenken, ohne etwas zu verschütten. Dabei bemerkte ich zuerst gar nicht, dass Onkel Frank hinter mir in der Tür stand und zusah.

„Also, jetzt mal unter uns, junge Dame... Ein Prosecco, ja? Ein einziger?“
„Naja... vielleicht zwei.“
„Oder drei.“
Ich wurde wieder rot, aber brachte keine Antwort heraus. Hastig löffelte ich Zucker in den Kaffee, um meinen Onkel nicht ansehen zu müssen.
„Rita wird bald nach Hause kommen. Sieh zu, dass du bis dahin nüchtern wirst. Normalerweise müsste ich dich gleich ins Bett schicken, aber sie würde misstrauisch werden, wenn du so früh schon schläfst. Es ist noch nicht einmal elf und immerhin hast du Ferien.“
„Hmm...“ nickte ich verlegen, trank den Kaffee in großen Schlucken und füllte mir gleich noch eine zweite Tasse nach. So recht vertrieb er das schwummerige Gefühl in meinem Kopf noch nicht.
Das Telefon klingelte und Onkel Frank verschwand kurz in den Flur, während ich mich unsicher auf einem Küchenstuhl niederließ und weiter fleißig Kaffee trank. Undeutlich hörte ich Onkel Franks Stimme aus dem Flur und kurz darauf öffnete sich die Küchentür erneut.
„Deine Tante kommt etwas später nach Hause. Wir sollen nicht auf sie warten.“ Er musterte mich mit einem spöttischen Grinsen. „Jedenfalls brauchst du jetzt nicht mehr so viel Kaffee in dich reinzuschütten. Vielleicht gehst du doch besser schlafen.“
„Ich... bin gar nicht müde...“
„Das denke ich mir nach dem vielen Kaffee. Wärst du ein paar Jahre älter, würde ich dir einen Tee mit Rum empfehlen, davon schläft man wie ein Baby. Aber unter diesen Umständen verzichten wir wohl besser darauf.“ Er gähnte. „Und im Gegensatz zu dir möchte ich nicht mehr lange wachbleiben. War ein langer Tag für mich. Kommst du allein zurecht oder soll ich dich in dein Zimmer bringen?“
„Nein... nicht nötig... Alles... in Ordnung...“
„Na dann... gute Nacht, Tam.“
Er verabschiedete sich mit einem weiteren Grinsen und ging dann in die erste Etage, wo sich das Schlafzimmer befand. Das war ja nochmal gutgegangen.
Tee mit Rum? Der Gedanke erschien gar nicht so abschreckend. Der Prosecco hatte ein äußerst wohliges Gefühl in mir hinterlassen und ohne es so recht erklären zu können, gaukelte mir mein verwirrtes Hirn vor, ein Schluck Rum könnte diese Annehmlichkeit noch verstärken. 

Nur ein einziger Schluck, um schnell zu schlafen? Ich wartete, bis ich oben das Klappen der Badezimmertür hörte, ging dann ins Wohnzimmer hinüber und öffnete den Schrank, in dem Onkel Frank seine Hausbar verwahrte. Tatsächlich, da stand eine Flasche klarer Rum, gleich vorn in der ersten Reihe. Sie war noch fast voll. Meine kichrige Stimmung kehrte zurück und gleich darauf hatte ich mir ein halbes Glas Rum eingeschenkt.

Schon der Geruch schreckte mich ab. Das war wohl doch zu viel des Guten, aber zum Tee kochen hatte ich nun wirklich keine Lust. Stattdessen holte ich mir eine Flasche Cola aus der Küche, füllte den Rum damit auf und nippte.
Der Geschmack ließ mich unwillkürlich erschauern. Ein zweiter und dritter Schluck, dann füllte ich wieder Cola nach. Nachdem ich das Spiel ein paar Mal wiederholt hatte, schmeckte mir der Mix tatsächlich.   Wieder klappte oben eine Tür, dann noch eine. Aha, Onkel Frank war fertig im Bad und ging jetzt ins Bett.

Ich füllte das inzwischen leere Glas noch einmal mit einem Rum-Cola-Mix, trank in schnellen Zügen und ließ die Flaschen und das Glas dann achtlos stehen. Ich beschloss, mich ins Bett zu legen und auf die Wirkung zu warten.
Auf halbem Weg hatte ich mit einem Mal das deutliche Gefühl, die Treppe würde unter mir schwanken. Die Beschwingtheit des Proseccos kehrte nun sehr viel deutlicher zurück und ich hatte den unwiderstehlichen Drang, laut loszulachen. Prustend hielt ich mir die Hand vor den Mund und erklomm weiter die Stufen, während die Wand zu meiner Rechten zu wabern schien und mir dann und wann entgegenzukippen drohte. Ich stolperte gegen das Geländer und diesmal musste ich tatsächlich lauthals loskichern.

Neben mir öffnete sich eine Tür.
„Himmel, was machst du denn für einen ….“ Onkel Frank klappte erstaunt der Mund auf. „Ach du liebe Zeit, was ist denn jetzt los?“
„N....nur ….ein....Schlllaf....trunk....“ Meine Zunge wollte mir nicht mehr recht gehorchen.
„Schlaftrunk? Moment, hast du etwa...?“ Er beugte sich ungläubig nach vorn und roch an meinem Atem. „Mädel, du bist ja sternhagelvoll!“
Ich hickste ein paar Mal und kicherte wieder.
„Stern...w....was?“
„Besoffen.“ sagte er trocken. „Sag mal, bist du noch zu retten? Jetzt ab Marsch ins Bett! Darüber haben wir noch zu reden! Hast du dich etwa an meiner Bar vergriffen?“

Er wartete gar keine Antwort ab, hob mich hoch und trug mich die Treppe nach oben. Inzwischen schien sich das ganze Haus um mich zu drehen. Um Himmels Willen, Onkel Frank hatte Recht, ich war tatsächlich völlig betrunken. Und jetzt fühlte sich das gar nicht mehr gut an, sondern wie eine Mischung aus einem Segelschiff im Sturm, einem viel zu schnellen Karussell und einem ganzen Fass Cola, das in meinem Bauch gurgelte.
Als Onkel Frank mich aufs Bett legte, hielt ich mich unwillkürlich am Bettpfosten fest und vergrub stöhnend den Kopf im Kissen.

„Das hast du dir selbst zuzuschreiben. Wie kann man nur so blöd sein? Wir sprechen uns morgen, Fräulein! Jetzt schläfst du erst einmal deinen Rausch aus! Und wehe, ich erwische dich heute noch einmal an der Bar!“
Alles in allem klang Onkel Frank zwar verärgert, wenn auch eher überrascht als ernstlich böse, aber darüber konnte ich gar nicht recht nachdenken. Ich wollte plötzlich nur noch schlafen und an gar nichts mehr denken. Und ganz plötzlich war da … aber noch ein anderes Gefühl, das nichts mit dem grässlichen Schwindel und dem verschwommenen Zimmer zu tun hatte.
Meine Blase.

Prosecco, Kaffee, Cola, Rum, ...warum war ich nicht zwischendurch zur Toilette gegangen?
„....Muss mal....“ lallte ich leise, obwohl mein Onkel schon längst hinausgegangen war und ich meine Augen längst im Halbschlaf geschlossen hatte. Wirre Bilder tanzten durch meine Gedanken, während ich allmählich wegdämmerte. Eine verschlungene, hüpfende Treppe, mein Onkel, der im Badezimmer unter einer laut rauschenden Dusche stand und mir einen Prosecco nach dem anderen reichte, Tante Rita, die am Kinoeingang stand und mir einen Schlauch in den Mund steckte, der meinen Bauch mit Cola füllte.

„Muss...dringend...“ Sogar im Traum reagierte meine Zunge kaum und kaum hatte ich die Worte herausgebracht, fand ich mich auch schon auf einer gigantischen Toilette wieder. Tante Rita und Onkel Frank standen wieder vor mir und überschütteten mich mit Aufforderungen wie „Lass es doch einfach laufen...“ Erleichtert gab ich dem heftigen Drang nach und entleerte meine Blase. Verwundert nahm ich wahr, dass es um mich herum plötzlich sehr warm und nass wurde, obwohl ich doch eigentlich auf der Toilette saß. Oder nicht? Dann versank alles in einem Farbwirbel....

„Tam? Tamara?“
Tante Ritas Stimme holte mich am nächsten Morgen recht unsanft aus meinen wirren Träumen.
„Tam, es ist gleich neun. Willst du nicht langsam aufstehen? Wir wollten doch zusammen einkaufen...“
Ich blinzelte und fühlte zugleich ein entsetzliches Dröhnen und Hämmern in meinem Schädel. Mir war speiübel und ich musste unwillkürlich würgen. Ich versuchte, mich auf die Seite zu drehen, erstarrte jedoch fast augenblicklich.

Meine Jeans klebte nass an meinen Beinen und es dauerte nur wenige Sekunden, bis ich die Wahrheit begriff.
„Hast du etwa angezogen geschlafen?“ fragte Tante Rita verwundert und trat näher. Dann stutzte sie und rümpfte die Nase.
„Was ist denn das?“ Mit einem Ruck zog sie die Decke weg und starrte entgeistert auf das völlig durchnässte Bett.
„Tamara! Du hast doch nicht etwa..... Also....das ist doch nicht.... in deinem Alter!“
Am liebsten wäre ich vor Scham geradewegs im Boden versunken, am besten bis zum Erdkern und noch weiter. Der üble Kater, mit dem ich zu kämpfen hatte erschien mir geradezu lächerlich im Vergleich zu der Peinlichkeit, die mir bewusst wurde. Nicht nur, dass ich nach meinem ersten richtigen Rausch sturzbetrunken von meinem Onkel ins Bett gebracht worden war, nein, ich hatte mich auch noch wie ein Kleinkind völlig eingenässt.

„Ab ins Bad mit dir!“ ordnete Tante Rita streng an. „Wie konnte dir denn das passieren? Bist du etwa krank?“
„Nein.....nein, ich... oh, Tante, es tut mir so leid....“
„Das kann ich mir denken. Geh dich waschen und umziehen und komm dann zum Frühstück. Den Einkauf müssen wir wohl verschieben, ich muss erst einmal die Waschmaschine anstellen. Und mach das Fenster auf, es müffelt ja ganz schön!“
Mit diesen Worten machte sie auf den Absatz kehrt und ließ mich rot wie eine vollreife Tomate in meinem Schlamassel zurück. Noch nie in meinem Leben hatte ich mich so sehr geschämt und am liebsten wäre ich sofort aus dem Fenster geklettert und weggelaufen. Wie konnte ich Onkel und Tante nur wieder unter die Augen treten?

Aber es half ja nichts... vor mir lagen schließlich nicht nur die Ferien, sondern auch noch einige weitere Monate in diesem Haus. Vielleicht würden sie ja den Vorfall schnell vergessen, wenn ich ihnen keinen weiteren Grund gab, sich über mich zu ärgern.
Angewidert schälte ich mich aus den nassen Kleidern, zog das Bett ab und stopfte alles in einen Wäschesack. Der scharfe Geruch von Urin ließ mich würgen, zumal mir sowieso todschlecht war.
Unter der Dusche fühlte ich mich kaum besser, mir war immer noch ein wenig schwummerig zumute und in meinem Kopf hämmerte es grauenhaft. Schon der Gedanke an ein Frühstück – ganz abgesehen von allem anderen, was mich in der Küche erwartete – erzeugte ein zusätzliches flaues Gefühl in meinem Magen und als ich schließlich in einen frischen Jogginganzug gekleidet die Stufen ins Erdgeschoss hinabstieg, war ich schon fast den Tränen nahe.

Onkel Frank saß bei Kaffee und Toast am Küchentisch und war fast gänzlich hinter der Zeitung verschwunden, während Tante Rita mir den Rücken zukehrte und am Spülbecken herumhantierte.
„Guten Morgen...“ nuschelte ich leise und setzte mich auf meinen Platz.

„Ach?“ machte mein Onkel ironisch, ließ die Zeitung aber nicht sinken. „Es würde mich wundern, wenn dein Morgen so gut wäre. Ich habe gerade mit Rita darüber gesprochen.“
Ich lief sofort wieder rot an und brachte keinen Ton heraus.
„Du wirst sicher verstehen, dass wir sehr enttäuscht von deiner Dummheit und Unvernunft sind. Nicht nur, dass du dich ohne meine Erlaubnis an der Hausbar vergriffen hast. Nein, du warst sogar dumm genug, dich so zu betrinken, dass du nachts ins Bett machst wie ein kleines Kind. Und das mit siebzehn.“

„Es... es tut mir leid...“ stammelte ich. „Ich weiß wirklich nicht, warum ich...“
„Deine Entschuldigung ändert nichts.“ erwiderte mein Onkel barsch. „Darüber, dass du mit deinen Freundinnen ein Glas Prosecco zu viel erwischt hast, hätte ich ja noch hinwegsehen können. Aber der Rest...“ Erst jetzt ließ er die Zeitung sinken, sah mich aber immer noch nicht an, sondern schenkte sich Kaffee nach. Stattdessen drehte sich jetzt Tante Rita zu mir um.
„Möglicherweise hattest du doch zu viele Freiheiten. Wir waren immer der Meinung, dass junge Mädchen ordentlich erzogen werden müssen und dass es nicht reicht, ihnen viel Taschengeld zu geben und zweimal im Jahr ein Zeugnis zu unterschreiben. Dir fehlen einfach die geordneten Strukturen einer Familie. Frank und ich glauben, dass es dir sicher gut tun würde, wenn du in deiner Zeit hier bei uns ein bisschen von dem nachholen würdest, was du bisher versäumt hast.“

„W..was?“ Ich hatte nicht die geringste Ahnung, wovon Tante Rita da redete. Sie wirkte jetzt wieder etwas freundlicher als kuirz zuvor oben im Zimmer, was mich doch erleichterte.
„Du hast schon richtig verstanden. Du wirst bei uns einfach lernen, wie man sich an Regeln hält und welchen Platz ein Kind in einer richtigen Familie einnimmt. Am Anfang werden dir einige Dinge ungewohnt vorkommen, aber du wirst schnell merken, dass das alles nur zu deinem Besten ist.“
Aha. Strengere Regeln also. Na gut, damit kam ich ja zurecht. Vermutlich würden sie mir gleich verkünden, dass ich bis zehn Uhr abends Zuhause sein müsste und dass ich in den Ferien jeden Tag für das Abiturjahr zu lernen hatte.

Doch noch warfen sich Tante und Onkel lediglich vielsagende Blicke zu, ohne sich genauer zu erklären.
„Zum Einkaufen werde ich dich heute nicht mitnehmen. Ich muss ein paar Dinge besorgen, über die du sicherlich diskutieren wollen würdest. Bis ich zurück bin, bleibst du in deinem Zimmer. Vergiss nicht, gut durchzulüften. Ich gebe dir nachher frisches Bettzeug. Außerdem wirst du Frank dein Handy und dein Tablet übergeben. Du bekommst es heute abend zurück.“
„Ja, Tante...“ erwiderte ich geknickt. Allerdings war ich froh, dass diese Strafe doch sehr glimpflich ausfiel. Handy und Tablet nur für ein paar Stunden abzugeben, war ärgerlich, aber durchaus hinnehmbar. Was Tante Rita aber über das Einkaufen gesagt hatte, verwirrte mich nur noch mehr. Worüber hätte ich denn diskutieren sollen?

„Und jetzt beeil dich mit dem Frühstück, damit ich abräumen kann.“
„Ich... ich habe keinen Hunger.“
Onkel Frank zuckte die Achseln und widmete sich wieder der Zeitung. „Das liegt an deinem Kater. Dafür hast du kein Mitleid zu erwarten.“
„Frank...“ mahnte Tante Rita halbherzig. „Du weißt doch, was wir versprochen haben.“
Sie holte eine große Flasche Orangensaft aus dem Kühlschrank.
„Hier, nimm die mit nach oben. Und jetzt ab mit dir. Ich werde nicht lange weg sein.“
„Hm.... danke...“ murmelte ich, obwohl ich gar nicht genau wusste, wofür ich mich bedankte. Ich fühlte mich einfach nur hundeelend und hoffte, dass ich nicht die ganze Zeit so knallrot angelaufen war, wie es sich für mich angefühlt hatte.

Gegen Mittag hörte ich Tante Ritas Wagen in die Einfahrt fahren. Ich sah aus dem Fenster meines Zimmers und konnte beobachten, wie sie einige vollgepackte Einkaufstüten auslud und ins Haus trug. Sie machte dabei ein äußerst zufriedenes Gesicht.
Ein bisschen nervös, weil ich nicht wusste, was als nächstes auf mich zukam, zupfte ich die Überdecke meines frisch gemachten Bettes zurecht, setzte mich an den Schreibtisch und beugte mich wieder über mein Englischbuch. Sicher machte es einen guten Eindruck, wenn ich freiwillig lernte. Nicht einmal die Musikanlage hatte ich angeschaltet. Nachdem ich den Orangensaft getrunken hatte, fühlte ich mich tatsächlich etwas besser, auch wenn es nun in meinem Bauch grummelte. Allmählich bekam ich sogar etwas Appetit und ich freute mich schon fast auf das Mittagessen.

Von unten her hörte ich die entfernten Stimmen von Onkel und Tante, aber sie waren viel zu leise, um sie zu verstehen. Bis dann aber endlich die Stufen unter Tante Ritas Schritten knarrten, verging noch eine ganze Zeit. Schließlich schwang meine Zimmertür auf.
Zuerst fielen mir die beiden vollen Tüten auf, die Tante Rita mitgebracht hatte und die sie jetzt in einer Ecke abstellte, bevor sie mit kritischem Blick mein Zimmer in Augenschein nahm.
„Schön, du hast aufgeräumt. Ich kann mir nicht vorstellen, dass du wirklich die ganze Zeit gelernt hast, aber das ist auch nicht so wichtig. Zumindest scheinst du ein angemessen schlechtes Gewissen zu haben. Bestimmt wirst du schnell einsehen, dass es besser ist, weiter so vernünftig zu bleiben.“
„Ja, Tante Rita...“

„Sehr schön. Weißt du, Tamara, du kennst dieses geregelte Leben einfach nicht. Für dein Alter bist du viel zu selbständig. Das werden wir ändern.“
„Zu... selbständig?“
„Ja, richtig. Deine Eltern haben dich zu sehr dir selbst überlassen. Deshalb tust du dir auch so schwer damit, dich in eine funktionierende Familie einzufügen. Später kann dir das ernste Probleme bereiten. So wie letzte Nacht. Mädchen in deinem Alter machen nicht mehr ins Bett.“
Sofort wurde ich wieder rot.
„Aber ich...“

„Ja, ja, ich weiß schon was du sagen willst. Das sind natürlich Ausreden, mein Kind. Die Wahrheit ist offensichtlich, dass du zwar auf dem Papier siebzehn Jahre alt bist, aber in dir drin steckt immer noch ein kleines Kind, das noch sehr viel mehr lernen muss als nur Englisch und Mathematik. Und als allererstes lernst du, was mit kleinen Mädchen passiert, die nachts ins Bett machen.“
„Aber...“
„Nein, nichts aber.“ Sie beugte sich zu einer der Tüten herunter und holte ein großes Paket heraus. Entsetzt klappte mir der Mund auf.

„Windeln?“
„Oh ja.“ Tante Rita nickte selbstzufrieden. „ Die Größe sollte passen. Damit sparen wir uns eine Menge Arbeit, ich habe nämlich keine Lust, jeden Tag das ganze Bettzeug zu waschen.“
„Aber Tante Rita, das war doch nur, weil... ich meine.... Ich mache nie ins Bett!“
Sie zog höhnisch die Brauen hoch.

„Nie, ja? Das war wirklich das allerallererste Mal seit du ein kleines Kind warst?“
„Ja... ich...“  Ich stockte. Nein, das konnte sie doch gar nicht wissen. Damals, vor etwa zwei Jahren, war ich krank gewesen. Eine wirklich widerliche Magen-Darm-Grippe. Ich war nachts von einem schrecklichen Druck im Darm aufgewacht und dann... 

Der Weg zur Toilette war einfach zu weit gewesen. Ich hatte es nie jemandem erzählt und meine Wäsche sofort in die Maschine gesteckt, aber vielleicht hatte meine Mutter sie noch einmal herausgeholt? Und es dann Tante Rita erzählt, bei irgendeinem ihrer seltenen Treffen? Nein, das konnte nicht... oder doch? Anscheinend konnte meine Tante auf jeden Fall Gedanken lesen, denn als ich jetzt betreten schwieg, grinste sie plötzlich wissend.

„Aha. Na siehst du. Nein, du brauchst nichts mehr sagen. Glaub mir, diese kleine Veränderung in deinem Alltag wird dir gut tun. Wie gesagt, du bist ohnehin zu selbständig. So, dann wollen wir mal. Keine Widerrede und keine Diskussion. Ich muss mich gleich um das Mittagessen kümmern und es wäre nicht ratsam, deinen Onkel zu verärgern, indem wir ihn warten lassen. Also, dann mal runter mit deinem Höschen. Und mach dich mit dem Gedanken vertraut, dass heute der erste Tag eines ganz neuen Lebens ist.“


Fortsetzung folgt...

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